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Der Lippenstift meiner Mutter

Deutschlandradio, 25.10.2010

Gebrochene Biografien in einer gebrochenen Stadt

Nordöstliches Polen, späte 70er-Jahre, tiefste Provinz: Der Zweite Weltkrieg und die Leiden sind noch gegenwärtig, die Solidarnosc erst im Entstehen, die politischen Aufstände der 1980er Jahre noch weit. In dieser Zwischenzeit lässt Artur Becker seinen neuen Roman spielen.

Von Vladimir Balzer

Der Sozialismus ist den meisten Bewohnern des Städtchens Dolina Róz egal, sie versuchen mit ihren gebrochenen Biografien in einer gebrochenen Stadt zurecht zu kommen. Man lebt in schlecht konstruierten Plattenbauten oder in verfallenen Gebäuden aus der Zeit, als der Landstrich noch zu Ostpreußen gehörte. Die Stadt schläft im »grauen Bett«, wie Becker schreibt. Häufig fällt der Strom aus, die Winter sind lang und dunkel, Frühling und Sommer gibt es nur an den nahen masurischen Seen. Die Männer hier sind cholerische Säufer, Betrüger, versehrte Weltkriegsveteranen – oder alles zusammen.

Das Einzige, woran sich die Hauptperson Bartek mit seinen 15 Jahren halten kann, ist seine Mutter. Er beneidet sie darum, dass sie ihre Lippen so wunderbar rot schminken kann. Und es gibt ein paar Schulkameraden, vor allem aber den Schuster Lupicki. Dessen Werkstatt ist Barteks Lebensmittelpunkt. Sie ist der lebendigste Ort des sonst so traurigen Masurenstädtchens. Hier trifft man sich, hier werden Geschichten erzählt. Vor allem wird hier nicht unterschieden zwischen Gut und Böse, Wehrmacht oder Partisan, Stalinist oder Revolutionär, Galizier oder Preuße, Russe oder Ukrainer, Schön oder Hässlich. Hier hat jeder seinen Auftritt, ist jeder willkommen – zumal ja auch »alle Schuhe in Dolina Róz gerecht behandelt werden müssen«, wie der Schuster sagt.

Bei Lupicki ist sogar »Opa Franzose« willkommen, Barteks Großvater, der regelmäßig aus dem Städtchen verschwindet, Familie und Geliebte verlässt und immer ärmer zurückkommt, als er losgezogen ist.
»Franzose« heißt er, weil er etwas französisch spricht und als gebildet und weltgewandt gilt. Dabei hat man ihn im KZ Bergen-Belsen »so oft gefoltert, bis er den Verstand verloren hat«.

Es gibt viele Figuren in diesem überbordenden Roman von Artur Becker, sogar Meryl Streep ist darunter. Der pubertierende Bartek sehnt sich so sehr nach ihr, dass er oft die Musik aufdreht, sich auszieht und sie – seine einzige, wahre Freundin – mit geschminkten Lippen besingt. »Eine gute Wahl«, wie Opa Franzose sagt.

Artur Becker stammt aus Masuren, fast alle seine Bücher spielen dort. Auch mit seinem neuen Roman ist er dorthin zurückgekehrt. Der Chamisso-Preisträger beschreibt die ostpolnische Provinz als einen unfreiwillig multikulturellen Ort, an dem sich die Folgen von Krieg und Vertreibung spiegeln, wo der Sozialismus nur als traurige Farce existiert, von dem jeder junge Mensch so schnell wie möglich weg will – sei es in der Fantasie oder in der Wirklichkeit. Und dennoch bietet er die wildesten Geschichten, vielleicht gerade weil die Wirklichkeit dort so grau ist.

Becker, der selbst seine Heimat verließ, um sich 1985 in Westdeutschland niederzulassen, gebraucht eine deftig-kräftige, fantasiegetränkte, zuweilen auch hemdsärmelige Sprache. In jeder Zeile ist Erzählfreude spürbar. Hin und wieder fehlt es an stilistischer Konsistenz, aber man wird gleich wieder versöhnt, mit Geschichten und Episoden, die sogar dieses graue, traurige Provinzstädtchen zu einem blühenden Ort machen – wenn auch nur in der Fantasie.

 

 

 

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