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Der Lippenstift meiner Mutter

Stuttgarter Zeitung, 5.10.2010

Die Werkstatt des Schusters, Nabel der Welt

»Der Lippenstift meiner Mutter«: Artur Becker malt Masuren

Von Tim Schleider

Wenn Artur Becker eines kann, dann ist es dies: erzählen! Im Nu, mit Schwung, im Handumdrehen entführt er uns gleich mit den ersten Sätzen seines neuen Romans »Der Lippenstift meiner Mutter« in die Werkstatt des Schusters Lupicki. Wir hören ihn klopfen und hämmern an seinem Tisch, den Meister all der verschlissenen, verratzten, vom Alltag geschundenen Schuhe seiner Mitbürger von Dolina Roz, einer Stadt in tiefster masurischer Provinz, einem Ort voller Gestalten und Geschichten, voller Polen, Galizier, Juden, Litauer – selbst ein paar heimliche Ostpreußen gibt es noch. Kaum einer ist freiwillig hier; die Zeit, die Politik, das Schicksal hat sie hergetrieben. Und sie fürchten sich alle ein wenig vor den Geistern jener, die vor ihnen in den alten Häusern lebten. Doch ob alt oder jung, arm oder etwas weniger arm: Schuhe brauchen sie alle. Deswegen ist weder die große katholische Kirche noch das mittelalterliche Stadttor, noch der Teufelsberg mit dem ollen Goethe-Denkmal oder gar die Plattenbausiedlung das Zentrum dieser Welt. Sondern eben eine dunkle, vor Schicksalen dampfende Schusterwerkstatt. Der Chamissopreisträger Becker, 1968 in Polen geboren und seit 1985 in Deutschland lebend, lässt uns Anteil haben am Leben all dieser Menschen irgendwann in den grauen Tagen des polnischen Spätkommunismus der achtziger Jahre. Seine Hauptfigur ist der pubertierende Schüler Bartek, dessen Geliebte immerhin Meryl Streep heißt – zumindest im Traum, seit er im Kino den Hollywoodfilm »Die Geliebte des französischen Leutnants« gesehen hat. Neben diesem jungen Held gibt es den Opa Monte Cassino, der beide Beine im Krieg verloren hat, die evangelische Oma Hilde, den bucklig-debilen Norbert, die stets ganz in Rot gekleidete stalinistische Naturdichterin Natalia Kwiatkowska, die scharfen Tanten Hania und Agata nebst blonden Gatten oder den bald volljährigen Schulfreund Marcin, der auf dem Sprung nach Amerika ist, zuvor aber noch den Kommunismus in Schutt und Asche bomben will. Wie schon im Vorgängerroman »Wodka und Messer« entführt uns der Autor mit seiner stets bildgenauen postbarocken Fabulierkunst in eine Welt, in der die Grenze zwischen historisch schlüssiger Realität und magisch verklärtem Traumreich zunächst verwischt, um endlich unbedeutend zu werden. Zu welchem Zweck, mag man fragen: um irgendetwas von den Gräbern und Abgründen jüngerer europäischer Geschichte zu verklären oder gar zu idyllisieren? Nein, das Verklären oder Schönschreiben ist ganz sicher Beckers Sache nicht. Man spürt auf jeder Seite vielmehr seinen Antrieb, den vertrackten, widersprüchlichen Wirklichkeiten gerecht zu werden. Becker macht sich einen Reim auf seine Welt – die am Ende einer langen Geschichte voller Finten und Pointen längst auch Teil der Welt des Lesers geworden ist. Ein Buch über Nachbarn, unter Nachbarn.

 

 

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