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Erzählte Lyrik –
Neue Gedichte von Artur Becker
Von Bernd Gosau
Im Alltag findet man Gedichte in der ZEIT, in der FAS, in den schmalen Bändchen der Verlage, in Sammelbänden oder selbstverfasst auf Familienfeiern. Jetzt hat der aus Masuren stammende und nun in Verden lebende Schriftsteller Artur Becker mit »Ein Kiosk mit 11 Millionen Nächten« einen umfangreichen Band vorgelegt, zu dem noch eine CD erschienen ist.
Der Autor erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seiner Jugend und beschreibt sein gegenwärtiges Leben. Zu Beginn wird die Perspektive festgelegt. Alle Ereignisse erscheinen wie »Gute Nachrichten von unserem Planeten«, die aus dem Weltraum, dem All, dem Universum wahrgenommen werden. So schaut man herab auf Erdlinge, die sich mit ihrem Alltagskram beschäftigen, »wir müssen fliegen, / Raumschiffe sollen auf unseren Häfen landen / unsere Seelen müssen segeln / und den Puls der Erdatmosphäre aufnehmen / wie ein Mikrofon.«, auf Engel, »auf den Hängen stehen Engel und flehen um neue Rasierklingen«, auf das Jenseits, »diese Hosentasche ohne Münzen«, und auf das Höllenreich, »mit letzter Kraft steige ich ins Höllenreich / Dort blüht / Das weise Zucken deiner Lippenstifte / Dort will ich dich suchen«. Das mag mystisch klingen, aber der Mystizismus »ist lediglich ein verbitterter hohler Raum, / ein Traum – bevor der nächste Tag kommt«. Kram, auch der.
1985 als 17jähriger nach Verden übergesiedelt, erzählt Artur Becker seine Kindheit aus heutiger Sicht. Sie ist die zweite, die andere Perspektive, in Opposition zu der des Weltraums. »Verlacht. Das Kind auf den Wiesen. (…) Auf den Wiesen lagern meine Träume. (…) Mein Vater und meine Mutter saßen / Auf grauen Holzbänken. Die Sonne leckte ihre Füße. / Da wurde ich geboren. Da war ein Kontinent.« Nur der kosmische Blick macht dieses Bild sichtbar. Er ist Hintergrund aller Texte. Der Autor schreibt über Warschau, »und zu jedem ersten August 1944 / Wirkt diese Stadt schon wieder so satt und selbstverliebt / Wie ein mondsüchtiger Straßenkehrer«, über das Haus der Eltern, «dort in der Kopernikusstraße bin ich aufgewachsen, (…) wurden Leichen vergraben, (…) hat Zefiryn Frankowski aus Posen den ersten gerechten Waffenhandel betrieben, (…) blieb für mich die Sonne stehen, (…) müssen Tote auferstehen, (…) wachsen immer noch Wiesen und Koppeln / Und es gibt keinen Taxistand / Wenn du ans Verreisen denkst«, über Schuhmacher, »doch ich vermisse die Schumacher / Aus Bartoszyce / Aus meiner Geburtsstadt und ich frage mich oft / Ob sie noch am Leben sind, (…) Vielleicht sind sie schon tot / Wie meine Kindheit« und über Erzengel, »aus welcher Gegend kommst du Erzengel? / Wir beschreiben sie astronomisch immer falsch / In unseren Taschentüchern und in unseren Computersprachen, / Die nichts von antiirdischen Zahlen und Naturgesetzen ahnen.«
In der Stadt Bartenstein hat der Autor seine Jugend verbracht. Zusammen mit seinem Cousin führt er durch diesen Abenteuerraum vorbei an der Kneipe Relaks, »aufgedunsen und unter Übergewicht leidend«, am Kino Muza »aus der Epoche der deutschen Besatzung«, am Molkereifriedhof »die besessenen Friedhöfe! Eine Schar von verrücken Friedhöfen – die magnetischen Felder unserer Stadt.«, an der deutschen Kaserne, die »im Wald von Bartenstein, wo der Fluss die letzte Biegung vollzog, stand«, hin zu dem Haus von Theresa, einer weisen Frau, die alle Geheimnisse dieser Welt kannte, und von der sich die Jungen Unterstützung für ihre Abenteuer versprachen. Artur Becker hat die Atmosphäre seiner Stadt so intensiv beschrieben, dass nun auch sie ein Ort auf der literarischen Landkarte ist, auf der schon »Unsere kleine Stadt« von Thornton Wilder und »Winesburg, Ohio« von Sherwood Anderson liegen.
Das heutige Masuren beschreibt der Autor sehr kritisch. Alle polnischen Männer sind Angler, «ihre Sprache wollten sie mir beibringen / und das Niederknien im Urlaub eines sozialistischen Staates / niemals eines Sternenvolkes«, »bei der Ausreise in die BRD fiel mir als erstes der Untergang meines Vaters auf: / die Niederlage eines von den vielen Anglern / der polnischen Meeresküste«, in dem Gedicht Moskovskaya Reka kommt der Titel vor, »man muss Nirwana und Guns N´Roses / Und ein paar Scheiben Brot bestellen / An jeder Ecke / Dann ist Moskau Zuhause/ Ein Kiosk mit 11 Millionen Nächten«, das war einmal die Zahl der in der Stadt lebenden Menschen. Angekommen ist er schließlich da, wo er jetzt wohnt, »der Regionalexpress Richtung Verden / Und immer solche netten Gesten der Metzger«. Die Stadt an der Aller ist zu einer Metamorphose von Bartoszyce an der Alle geworden, Masuren ist eine Region in Europa und Polen in der EU.
Mit den Tiraden aus dem Totenreich kommt eine dritte Perspektive hinzu. Die Tiraden sind kurze Texte, zum Verhältnis von Kopf und Beil etwa, »wenn ich nur meinen Kopf ausschalten könnte, ohne das Beil zu benutzten«, zum Kind in Ägypten, »mein Gott, wann ist das gewesen? In welchem Jahrhundert? Auf welchem Planeten?« und immer wieder zu Flüssen, »und schau doch – in der Aller schwimmen die Verdener Bischöfe, im zarten Fegefeuer der Jahrhunderte, und du kannst sogar diese steinernen Zentauren besuchen, in ihrem grünen Heimatdom«. Setzt man den Satzumbruch ins Zeilenformat, »Und schau doch − in der Aller schwimmen die Verdener Bischöfe, / im zarten Fegefeuer der Jahrhunderte, / und du kannst sogar diese steinernen Zentauren besuchen / in ihrem grünen Heimatdom«, heben Rhythmus und Atem den Text über den Satzspiegel hinweg, die Grenze von Lyrik und Prosa verschwimmt.
Ergänzend gibt der Autor Auskunft über seine polnischen Vorbilder. Czesław Miłosz nimmt den meisten Raum ein. Hier werden die Quelle, der polnische Geist und die Haltung von Beckers eigener Lyrik sicht- und hörbar. Dadurch, dass er selbst der Übersetzer ist, gelingt der Transfer in die deutsche Sprache mühelos. Das gilt auch für die anderen polnischen Autorinnen und Autoren.
Aphorismen schließen den Band ab. »Mein Sohn Philip – die Windmühle –bricht alle physikalischen Gesetze, wenn er von der Schule nach Hause kommt«, »Oxford: in einem Club mit Girlanden und auf engen Bänken reden wir übers Licht und seine unsichtbare Libido« und »keiner der Demiurgen hat uns je gefragt, was wir Erdlinge eigentlich wollen.«
Die CD enthält 15 Gedichte aus dem Kiosk und den anderen drei Lyrikbänden des Autors. Artur Becker tritt mit der Bremer Band Les Rabiates auf. Seine Gedichte erweisen sich als geeignete Textvorlagen für Lieder, wenngleich er mehr Sprecher ist. »Wodka und Messer« existiert zum Beispiel als Lied, als Gedicht und als umfangreicher Roman. Alle Präsentationsweisen haben ihre Berechtigung, obwohl gerade das Lied, auch durch den polnischen Akzent des Autors, von besonderem Reiz ist. Dieser »masurische Akzent« verweist auf das Wesentliche der Beckerschen Lyrik:
Sie ist gespickt mit für die deutsche Literatursprache ungewöhnlichen neuen Bildern, sie lässt die Grenze zwischen Prosa und Lyrik verschwimmen, sie ist als Vorlage für Lieder geeignet und sie wartet mit über das Konkrete hinausgehenden Perspektiven auf. Seine Texte sind also nicht nur nützlich für unseren Kram auf der Erde, sie weisen darüber hinaus.
Artur Becker, Ein Kiosk mit 11 Millionen Nächten, STINT – Literatur aus Bremen, Bremen 2009, Englische Broschur, 256 Seiten, 18,90 €.
Les Rabiates und Artur Becker, Ein Kiosk mit 11 Millionen Nächten, CD, 16 Stücke, STINT – Literatur aus Bremen, Bremen 2009, 14,90 €. |