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Die Milchstraße

"Irgendwo in Deutschland" März/April 2004

Kino Muza – das Fenster zur Welt in Bartoszyce

1968 geboren als Sohn polnisch-deutscher Eltern in Bartoszyce {Masuren} lebt Artur Becker seit 1985 in Deutschland. Er schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Aufsätze und ist auch als Übersetzer tätig, Für seine bisherige Arbeit wurde er bereits mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Für seinen neuesten Roman "Kino Muza" erhielt er das Jahresstipendium für Literatur 2002 des niedersächsischen Kulturministers

Mit Artur Becker spricht Peter Schlenter

Peter Schlenter: Wie kommt man eigentlich dazu, Geschichten zu schreiben?

Artur Becker: Schwierige Frage, wie kommt man eigentlich dazu? Ich denke mal, dass grundsätzlich jeder Mensch Geschichten zu erzählen hat und es gibt Menschen, die dazu neigen, Geschichten erzählen zu müssen. Entweder sie haben getrunken, oder sie sind ein Menschentypus, von dem ich sagen würde, sie sind Schwätzer oder Erzähler, die gesellige Runden haben oder haben wollen. Wenn man Autor ist, glaube ich, ist es wichtig zu wissen, was für eine Art Autor man ist. Bin ich ein Erzähler oder bin ich eher der Intellektuelle, oder mehr der Lyriker? Bei mir ist das alles sehr vermischt, da ich alles mache, außer Filmdrehbücher zu schreiben. Der Grundtypus meines Charakters ist, dass ich gerne erzähle, und das nicht nur auf Grund dieser komplizierten familiären biographischen Geschichte, sondern vielmehr auf Grund einer psychischen Neigung. Das heißt, ich neige zwar nicht zu Monologen, aber mir fällt immer wieder etwas aus meiner Vergangenheit oder aus der Vergangenheit meiner Bekannten oder meiner Freunde ein.

P.S.: Sie sagten: schwierige deutsch-polnische Verhältnisse. Sie kommen aus Masuren, was ist das für eine Gegend?

A.B.: Das ist eine Gegend, über die ich auch in "Kino Muza" also im letzten Roman geschrieben habe - verraten, geteilt, wieder gekauft, wieder aufgebaut, wieder vernichtet und noch einmal ... Ich glaube, jeder Ort hat seinen Geist, aber besondere Gebiete haben einen ganz besonderen Geist und das trifft für Masuren unbedingt zu. Für mich ist das in erster Linie der Ort meiner Kindheit und in zweiter Linie ein polnisches Land gewesen, in dem ich aufgewachsen bin, ein sozialistisches Land. Das Land, das eigentlich nur noch in meinen Erzählungen existiert. Masuren ist für mich auch ein sehr poetisches Land, das ist klar, sonst wäre ich wahrscheinlich kein Schriftsteller geworden, aber wenn ich das nur auf meine Heimat beziehen würde, das wäre ja sehr oberflächlich. Masuren hat auch auf Grund der großen Fluktuation von Völkern sehr viele folkloristische Bräuche und Merkmale. Man muss sich mal vorstellen, dass vor 1945 und nach 1945 Juden, Russen, Ukrainer, Masuren, Deutsche, Kaschuben, Balten immer in einem kleinen Gebiet zusammengelebt haben. Ich glaube, Globalisierung hat dort schon viel eher stattgefunden, als wir uns das heute wünschen oder kritisieren.

P.S.: Aber ich denke doch schon, dass es eine nationale Identität der Masuren gibt, oder?

A.B.: Also ich bin Masure! Ja, jetzt sprechen wir über diese großen, populistischen Probleme. Zum Beispiel lese ich ja auch historische Bücher über die Masuren. In einem Buch des jungen Historikers Andreas Kossert kam mir eine sehr interessante Information in die Hände. Die Deutschen, bzw. Preußen haben 500 Jahre lang versucht, die Masuren zu germanisieren und es bis 1945 nicht geschafft. 45 kommt die polnische Regierung, 47 gibt es die Volksrepublik Polen und innerhalb von 10-15 Jahren schafft es die polnisch-kommunistische Regierung, dass die Masuren nach Deutschland abwandern. Im Grunde genommen wollten sie sich nicht germanisieren lassen, aber sie wollten sich auch nicht polnisieren lassen.

P.S.: Fühlen Sie sich heimatvertrieben?

A.B.: Nein, überhaupt nicht. Dann würde ich ja auch in die Ecke der Heimatvertriebenen rutschen. Sudetendeutsche, Masuren, das wird politisch mehr und mehr aktuell. Nach 1989 haben sich die Verhältnisse zwischen Polen und Deutschland ziemlich verkompliziert, aktuell noch durch den Irak Krieg, in dem die Polen mitmachen. Ich fühle mich als ein Produkt des zweiten Weltkrieges und das ist Wahnsinn. Ich bin 35 Jahre alt, geboren 1968 und die Folgen des zweiten Weltkrieges wirken immer noch.

P.S.: Kommen wir zu ihrem neuesten Roman "Kino Muza". Sind das persönliche Erlebnisse, sind das Erlebnisse die sie eingesogen haben, teilweise in Traurigkeit, teilweise in Glück, in Verbundenheit. Wie ist dieser Roman entstanden?

A.B.: Auch wieder eine schwierige Frage. Die Genese des Romans. Bis jetzt haben sich alle Bücher mit der Problematik Masurens befasst. Ganz moderne Literatur, wie leben die Helden, Antihelden heute in unserer Welt. Die richtige Genese dieses Buches ist im Grunde genommen erstmal die Faszination Filmkino Muza, dass es bis heute noch in Bartoszyce gibt. Ich spürte innerlich schon seit Jahren, dass ich diese 70er-Jahre-Atmosphäre im Kino Muza einfangen wollte, in dem ich praktisch schon mit 10, 11 und 12 Jahren den ersten Kontakt mit Kultur hatte und das dir das Fenster zu Welt geöffnet hat in deiner kleinen Provinz. Kino Muza als ein "magischer Punkt" in dieser Stadt. Was die biographischen, bzw. autobiographischen Momente angeht, ist das sehr schwierig, da ich bis jetzt über mich selber sehr wenig geschrieben habe. Was aber autobiographisch im Buch beschrieben wird, sind die Menschen. Die hat es tatsächlicher Weise so oder so gegeben, z. B. Robert, der immer Gewächshäuser hatte und der als Kapitalist damals noch in den 80igern eine Firma hatte und damit sehr erfolgreich war. Aber das sind keine Attitüden, das ist meine Schreibweise, ich möchte sehr konkret schreiben und schreibe über das, was ich kenne.

P.S.: Sind die Sehnsüchte im Kino Muza nicht übertragbar auf die Sehnsüchte der kleinen Städte, weit ab von der großen Kultur, also auf das leben in der Kleinstadt an sich?

A.B.: Ja, genau das ist es, was ich in "Kino Muza" auch herausarbeiten wollte und zwar im Verhältnis zu Antek Haack und Lucie, die zu ihm sagt: du bist bescheuert, du verlierst dein Kino Muza nicht. Wo du bist, ist dein Kino Muza. Antek begreift das einfach nicht, er kann sich von seiner Heimatstadt nicht lösen, aber Lucie begreift das schon längst. Kino Muza, das Kino der Musen, ist ja schon vom symbolischen Gehalt getragen und Antek erkennt nur mühsam, dass auch andere Orte magische Orte sein können. Ich habe das als Autor mehr und mehr verstanden. Ich möchte gerne mal auf den Begriff Einsamkeit zurückkommen. Einsamkeit entsteht durch Menschen oder durch die Innenwelt? Das ist ein philosophisches Problem und auch eine schwierige Frage: Innenwelt oder Menschen, ja? Wir haben schon so vieles über diese Einsamkeit gehört. Also wir machen uns die Hölle selber, oder wie Pippi Langstrumpf sagt: Die Welt ist so, wie wir sie uns machen. Viele Menschen sagen, dass das 20. Jahrhundert das grausamste Jahrhundert gewesen ist. Es ist ungeheuerlich, was wir in diesem Jahrhundert für Möglichkeiten geschaffen haben, um das Menschenleben zu vernichten. Während in Auschwitz und Hiroshima in kurzer Zeit Millionen Menschen getötet wurden, sind im Kolosseum in 300 Jahren "nur" 300.000 Menschen ums Leben gekommen. Ich beschreibe deswegen die Schrecklichkeiten des 20. Jahrhunderts, weil in der Literatur tatsächlich ein Antiheld geboren wurde mit Knut Hamsun und Louis-Ferdinand Céline ("Reise ans Ende der Nacht"). Als die neue Prosa kam, hat man damit angefangen, sich mit dem Individuum von einer ganz anderen Seite zu beschäftigen. Es kann keine Konflikte mehr lösen, es ist ziemlich einsam und verlassen und es ist kein romantischer Held mehr, der interessant wäre für eine Romanfigur. Das sagt doch irgendwas über unsere Zeiten, dass wir Werte verloren haben, dass wir uns mehr und mehr wegen der Schnelllebigkeit unserer Welt voneinander entfernen. Um heute noch seinen innerlichen Kick zu bekommen, muss man nach Thailand fliegen, man muss praktisch immer mehr auf die Beine stellen, um einen Höhepunkt zu bekommen. Da hatten es die Menschen früher einfach. Man fragt sich, was haben diese Menschen gemacht, als es keine Handys, CDs und Videos gegeben hat? Ich glaube, da antworte ich für viele Autoren. Dieses Thema Einsamkeit ist ein sehr großes Thema geworden. Was die gesellschaftliche Entwicklung angeht, sehe ich das sehr negativ, wir leben in einer sehr dekadenten Zeit und das schon über 100 Jahre. Es ist vergleichbar mit dem Römischen Reich., als es auf dem Höhepunkt war. Ich weiß nicht, was wir uns noch für Höhepunkte bauen können, wenn wir uns schon virtuelle Welten aufbauen. Also was soll da noch kommen?

© Peter Schlenter

 

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