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WDR5
vom 29.12.03
"Kino
Muza"
Von
Ulrich Noller
"Ich kämpfe gegen die äußerst verrückte
Vorstellung, dass es einen Tod gibt und danach nichts mehr"
- Auf dem Weg zum Erfolgsautor: Der polnisch-deutsche Schriftsteller
Artur Becker und sein neuer Roman "Kino Muza"
Er gilt als einer der talentiertesten Geschichtenerzähler der
deutschsprachigen Nachwuchsliteratur: Artur Becker, polnisch-deutscher
Autor und Dichter. Drei Lyrikbände, ein Buch mit Erzählungen
und zwei Romane hat der 35jährige bisher veröffentlicht;
mit "Kino Muza" ist jetzt sein dritter und bisher umfassendster
Roman erschienen.
Das alltägliche Leben und Überleben in Polen der achtziger
Jahre
Antek Haack ist der Held in Artur Beckers neuem Roman. Ein Mann
von Mitte Dreißig, der im Polen der achtziger Jahre eine Art
Bomehmeleben führt: Er arbeitet im "Kino Muza" seiner
Heimatstadt als Kartenabreißer, hat eine Geliebte in Polen
- und eine in Deutschland, wo er sich für einige Monate im
Jahr als Anstreicher verdingt. Ein leichtes und unverbindliches
Dasein also, das so weitergehen könnte. Aber das gibt es bekanntlich
nicht einmal im Film. Wie Antek mit den Umständen ins Gehege
kommt, nach Deutschland übersiedelt - und da erkennen muss,
dass man vor sich selbst auf Dauer nicht fliehen kann, davon erzählt
Artur Beckers Roman.
Thema des Buches ist, wie der Einzelne von der Ideologie, vom Staat,
von den Umständen bestimmt und gegängelt wird. In vielen
kleinen Geschichten und schrägen Anekdoten erzählt "Kino
Muza" dabei vor allem vom alltäglichen Leben und Über-Leben
in den wunderlich-abseitigen Landschaften Masurens. Im Mittelpunkt
stehen immer die Menschen; unbefangen schöpft dieser Schriftsteller
aus dem prallen Leben.
Ein literarischer Chronist der kleinen Leute
Trotz aller Ironie, trotz seines amüsierten Blicks auf Schrullen
und Macken schreibt Artur Becker im Grunde aber realistisch im Sinne
eines literarischen Chronisten: Die meisten seiner Geschichten haben
einen wahren Kern; viele seiner Charaktere sind Hommage an tatsächliche
Vorbilder. Er kämpfe gegen die "äußerst verrückte
Vorstellung, dass es einen Tod gibt und danach nichts mehr",
sagt der Autor - und deshalb lasse er in seinen Geschichten die
Menschen, denen er irgendwann einmal begegnet sei, weiterleben.
Die magische Landschaft Masurens ist ein zentrales Moment in diesen
Geschichten. In dieser Landschaft herrsche auch heute noch ein ganz
anderes Zeitgefühl, sagt Artur Becker - schwärmerisch.
Nicht nur literarisch, auch persönlich scheint dieser Schriftsteller
seine Heimat nicht komplett verlassen zu haben. Als Teenager, der
fest davon überzeugt war, einmal ein großer polnischer
Schriftsteller zu werden, wanderte er von Polen nach Deutschland
aus; und einen angehenden Autor ein besonders einschneidender Schritt:
"Sich die Sprache zu nehmen, das ist für einen Schriftsteller
im Grunde genommen wie ein Amputation," sagt der Schriftsteller
- und betont, dass er so einen Schritt mit Sicherheit kein zweites
Mal machen werde.
Wie aus dem polnischen ein deutscher Schriftsteller wurde
Artur Becker hatte keine Wahl - aber er machte aus der Not eine
Tugend: Er lernte schnell und gründlich Deutsch; entschied
sich ganz bewusst dazu, fortan ein deutschsprachiger Schriftsteller
zu sein. Denn daran, dereinst als Autor leben zu wollen, hielt Becker
trotz aller Probleme auch in dieser Lebensphase fest. In seinem
Fall, wie sich heute zeigt, kein jugendlicher Enthusiasmus, sondern
ein Erfolgskonzept. Artur Becker gilt als einer der begabtesten
Vertreter der Migrantenliteratur; im Deutschen ist der 35jährige
also längst richtig angekommen.
Heute ist Artur Becker ein deutscher Schriftsteller mit polnischen
Wurzeln. Deutsch, so erzählt Becker, sei seine Sprache und
eine gewisse Betonung des Eigenbrötlerischen. Polnisch beziehungsweise
slawisch sei dagegen so eine bestimmte Leichtigkeit, für die
man seine Erzählungen ja auch immer wieder rühme und mit
Preisen auszeichne.
Allerdings wäre daraus beinahe nichts geworden. Denn das ist
die erstaunlichste Folge von Artur Beckers Sprachwechsel: Erst durch
die Auseinandersetzung mit dem Deutschen fand Becker, der sich eigentlich
als Lyriker hatte profilieren wollen, zu der Form, in der seine
Sprache und seine Erinnerung sich perfekt ergänzen: Zur Epik,
zum Geschichtenerzählen in einem biblischen Sinn.
©
Ulrich Noller
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