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Neue
Zürcher Zeitung vom 10.12.03
Bilderwelten
und Weltbilder
Artur
Beckers opulenter Roman "Kino Muza"
Von
Andrea Gnam
"Ein
Spanner auf Reisen, ohne Visum, Pass und Kreditkarten": So
beschreibt der polnische Gelegenheitsarbeiter Antek seine Position
als Kinogänger zwischen Deutschland und Polen. Mindestens vier
Leben führt Artur Beckers Romanheld aus "Kino Muza".
Er pendelt zwischen drei Frauen, ihren Welten und dem Vorrat an
medialen Bildern, die er dem Filmrepertoire erlaubter und verbotener
Streifen im Kino Muza verdankt, bei dem er zeitweilig in seinem
(und des Autors) Heimatort Bartoszyce als Kartenabreißer arbeitet.
Die Bilderwelt des Kinos, dem das Buch zeitspezifische Couleur verdanken
könnte, bleibt jedoch merkwürdig blass.
Filmtitel, eingeblendet in Anteks Überlegungen zur besten Überlebensstrategie,
hinterlassen eine einsame Leuchtspur am nicht eben weiten geistigen
Horizont ihres Helden. Beim Lesen aber schaffen sie nicht mehr Helligkeit
als das zeitweilige Aufflackern von illuminierten Werbetafeln. Der
holzschnittartige Erzählstil hält sich nicht damit auf,
Orte oder Personen genau zu differenzieren; Angaben wie der Umstand,
dass die Nase einer Person "Ähnlichkeit mit einem Korkenzieher"
habe, müssen der Charakterisierung Genüge tun. Der Höhepunkt
an sprachlicher Eleganz ist bereits geschickt auf dem Klappentext
zitiert: Da hat die Stadt keinen Himmel, sondern "ein Zylinder
schwebte über Bremen, ein Chapeau claque, unter dem es nur
die Strassen und Häuser gab. Die Erde."
Die Schönheit dieser Betrachtung muss für einen 330 Seiten
zählenden, prallen Roman reichen, in dem ein Antiheld nicht
nur drei Frauen für sich begeistern kann, sondern sie auch
allesamt durch Entzug seiner Anwesenheit zu zähmen weiss. Zunächst
selbstbewusst und erotisch fordernd, nehmen sich die natürlich
bildhübschen, finanzstärkeren Damen zurück, um den
stets fliehenden Antek zu halten. Nein, man darf die Zukunft nicht
mit ihm planen und keine Ansprüche stellen, rät die eine
Verlassene in einem Brief der anderen, während die dritte ihm
anbietet, für ihn zu putzen und die andere Freundin klaglos
zu akzeptieren.
Wo aber spielt sich das Leben ab, wenn einer ständig auf der
Flucht ist? Das Beziehungsgefüge ist stets so ausgelotet, dass
bei zwei zur Verfügung stehenden Frauen die dritte gerade unerreichbar
im Ausland weilt. Und natürlich dieser gelten Anteks erotische
Sehnsüchte, wenn er nicht gerade Pläne zur Übernahme
des Kinos Muza allen Liebschaften vorzieht. Die Männer sind
ganze Kerle, mit herbem Charme, auch in ihrem Scheitern. Der Staatssicherheitsdienst
im Polen der achtziger Jahre verbreitet begründete Angst. Die
morbiden Orte - das heruntergekommene Kino Muza, ein Pensionsbetrieb
auf einer Insel, ein ehemaliger Güterbahnhof, der von Künstlern
bewohnt wird, ein Behindertenheim - entfalten einen gewissen Reiz,
den sie vielleicht den Filmen verdanken, die der Leser seinerseits
gesehen haben mag. Aber kann man einem nicht mehr unerfahrenen Autor
in seinem sechsten Buch einen Satz wie diesen verzeihen? - "Sie
war ein Mädchen, das mit dreizehn früh reif sein würde.
Sie hatte ein schmales Becken wie ihre Mutter, dazu die langen Beine
und die feisten, blutreichen Lippen, doch bereits jetzt konnte man
erkennen, dass da eine Teufelin heranwuchs." Eigentlich kann
man dies nicht, aber seltsam genug: Dem Autor gelingt es dennoch,
einen opulenten erzählerischen Kosmos aufzubauen, den man,
wie bei einem Kinobesuch, am Ende des Buches in seiner spröden
Melancholie tatsächlich ein wenig vermissen wird.
©
Andrea Gnam
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