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Radio FLORA Hannover, 8.10.2006

Literaturszene Hannover

Von Johannes Schulz

Anmod.: Mit der Novelle »Die Zeit der Stinte« und dem Roman »Das Herz von Chopin« bringt der deutsch-polnische Autor Artur Becker dieses Jahr gleich zwei große Prosaprojekte heraus. Johannes Schulz hat sich mit dem soeben erschienenen Roman »Das Herz von Chopin« beschäftigt:

O-Ton Seite 136/137: »Jedes Mal, wenn ich erwähnte, dass ich aus Polen käme, wurde ich mit Fragen bombardiert, auf die ich keine Antworten hatte – andersrum gesagt, ich hatte es satt, wie ein Experte für den Zusammenbruch des Kommunismus dazustehen, den Säbel meines in Litauen geborenen Großvaters zu schwingen und herumzuschwadro-nieren, warum die Welt in einem fort politische Systeme hervorbrachte, die so kurzlebig waren wie Schmetterlinge. Die Bundesrepublik existierte seit der Vereinigung auch nicht mehr. Der neue Staat hatte keinen Namen, doch selbst diese Namenlosigkeit war mir schnuppe, weil ich seit fast zwanzig Jahren in Deutschland lebte und nicht wusste, was in Polen los war: Ob sich Herr Micha-łowski in B. selbständig gemacht hatte oder wahnsinnig geworden und in einer Nervenheilanstalt gelandet war; ob er immer noch seine Söhne schlug, weil sie das Einmaleins nicht beherrschten; ob meine Großmuter Natalia am Jüngsten Tag in den Himmel oder zusammen mit den Soldaten der Ewigen Nacht und der Roten Fahne in die Hölle wandern würde. Ich wusste nicht, welche Partei in meinem Städtchen regierte und ob sie die Visumspflicht für Russen abschaffen oder beibehalten wollte.«

Chopin ist im masurischen Bartoszyce geboren und aufgewachsen und macht 1983 »rüber«, ins gelobte Land Bundesrepublik, in den Westen, weg von den Tiraden und Schlägen des Vaters, der Chancenlosigkeit, den Stasi-Spitzeln, die ihm und seinem Freund Andrzej im Nacken sitzen, weg vom drohenden Militärdienst.

O-Ton Seite 23: »In meinem polnischen Heimatstädtchen Bartoszyce an der Łyna grassierten zwei Krankheiten: der Tod und die Liebe. Es verging kein Tag, an dem nicht jemand an einer dieser beiden Krankheiten oder gar an beiden gleichzeitig starb. Die schwarz umrahmten Todesanzeigen, die klepsydry, klebten an jedem Haus, und als Schüler war ich fast täglich damit beschäftigt gewesen, die Namen der Verstorbenen zu notieren. Ich führte eine Liste, die immer länger wurde, und ich nannte sie die »Todesliste«. Am anfälligsten für die beiden Seuchen waren dreißigjährige Männer, so auch mein Vater, und dass er immer noch lebte, hatte er wohl den ekstatischen Gebeten meiner Mutter zu verdanken, die eine Schwester der Heiligen Maria war. Jedenfalls stellte ich irgendwann fest, dass die Dreißigjährigen selten älter als fünfzig wurden. Sie tranken sich zu Tode oder brachten sich vor Liebeskummer um. Des Weiteren herrschte in Bartoszyce Die Ewige Nacht des Dezembers. Selbst in den heißen, ostpreußischen Sommern der Deutschen und Pruzzen ließ sich diese Ewige Nacht nicht vertreiben. Ich mochte sie zwar, weil sie mir die Sterne näher brachte, aber sie jagte mir doch ab und zu Angst ein.«

In Bremen, 20 Jahre danach, sitzt Chopin, gerade im Begriff als Gebrauchtwagenhändler mit zwei Kompagnons einen Millionendeal abzuwickeln, in seiner Stammkneipe und besäuft sich planmäßig. Er ist mit der Welt am Ende, tot, wie er sagt, denn seine geliebte Maria Magdalena hat ihn verlassen, und diesmal endgültig, wie es scheint. So beichtet er im Suff dem Zufallsbekannten Leo Bull seinen Weltschmerz und damit die ganze Lebensgeschichte. Wie er einmal auszog, den Westen das Fürchten zu lehren, in der Tasche eine imaginäre Todesliste, im Herzen ein eiskalter Engel nach dem großen Vorbild Alain Delon. Und das es bald viel zu tun gab, für einen talentierten Verkäufer kam mit der Wende die Chance, denn der riesige, kapitalistisch völlig unerschlossene Osten brauchte vor allem eines: jede Art von Waren und allen voran natürlich Autos. Da wurden alle Pläne von einem Studium hintangestellt und erst mal kräftig mitverdient. Doch Chopin unterschätzt die Eigendynamik der freien Marktwirtschaft, mit den wachsenden Geschäftsabschlüssen sinkt auch die Hemmschwelle der beiden Geschäftspartner Lukas und Volley, ihn, den Polen, zu übervorteilen. Der intellektuelle Leo Bull ist es schließlich, der Chopin am Ende einen Weg aus dem ganzen Desaster zeigt. Am Morgen nach der Generalbeichte wacht Chopin verkatert in Leos Bibliothek auf und entdeckt in einer klassischen Ecce Homo Konfrontation zwischen Leos Büchern einen grauen Totenkopf.

O-Ton Seite 245-46: »Ich holte den Schädel zwischen den Büchern hervor und streichelte ihn. Ich war schon so verkommen, dass ich keinen Respekt mehr vor den Toten hatte, genauso wie mein Gastgeber, der diesem Verstorbenen eine Unterkunft inmitten von hunderten, verstaubten und aufgrund ihres Alters zerfallenden Büchern und Heften bot. Oder war es für einen Nazi doch ein viel zu bequemes Hotel? Vielleicht war er auch Jude. Oder ein Christ. Oder Rotarmist. Vielleicht würde mir nach meinem Tod ja etwas Ähnliches zustoßen: Irgendjemand könnte meine Knochen ausgraben und in seiner Bibliothek ausstellen wie in einem Museum. Für eine Ausstellung wurden wir aber nicht geschaffen. Wir Menschen mussten mehr sein. Wir mussten erstrahlen und brennen. Und vor allen Dingen sein

Artur Becker hat mit dem opportunistischen Chopin einen jener menschlich-allzumenschlichen Träumer wiederbelebt, wie sie aus dem Erbe eines Don Quichotte und eines Peter Schlemihl hervorgehen. Und dass sich diese Wanderer zwischen den Welten in Beckers Romanen stets auch durch eine gehörige Portion autobiographischer Selbstironie auszeichnen, macht den eigentümlichen Reiz seiner Schriften aus. Neben den wehmütigen Schilderungen der masurischen Heimat rund um den ermländischen Dadajsee sind es diese närrisch-lebensklugen Grenzgänger wie ein Chopin oder Onkel Billy, die zum einzig Verbindlichen in einer Welt des Aufbruchs und des Chaos werden.

Große Liebende, die sich mit der Kraft ihrer Herzen gegen die schleichende Kälte der Welt wehren.

Artur Beckers neuer Roman »Das Herz von Chopin« ist soeben bei Hoffmann und Campe erschienen und über den Buchhandel erhältlich, es kostet 22.- Euro.

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