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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Dezember 2001
Kanadische Polonaise – Hic Wodka, hic salata: Artur Beckers Schelme wandern aus
Von Sebastian Domsch
Mann kann Artur Beckers Roman „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“ sowohl nach dem bewerten, was der Autor geschrieben hat, als auch
nach dem, was er ungeschrieben gelassen hat. Die polnisch-kanadische Auswanderungsgeschichte von besagtem Onkel Jimmy, dem Ich-Erzähler Teofil und seiner Freundin Agnes hätte Stoff für drei sehr unterschiedliche
Bücher geliefert. Nur eines davon gibt es, und das ist zum einen gut, zum anderen aber auch sehr schade, ergibt aber in dieser Balance einen gleichzeitig poetischen und realistischen, auf jeden Fall lesenswerten
Roman.
Da ist zuerst einmal die Geschichte der jungen Agnes. Sie ist verliebt in den sechzehnjährigen Teofil, vor allem aber will sie heraus aus dem im Realsozialismus erstarrten Polen der späten achtziger
Jahre. Also schließt sie sich, zusammen mit ihrem Freund, dessen verrücktem Onkel Jimmy bei seiner Emigration an. Für die Ausreise nimmt Agnes sogar eine Scheinehe mit dem bierbäuchigen älteren Herren in Kauf.
Im gelobten Land angekommen, zeigt sich sehr bald, dass sie die intelligenteste und umsichtigste des ungleichen Trios ist. Unbeirrbar strebt sie darauf zu, sich ihr persönliches Stück vom amerikanischen Traum zu
erarbeiten.
Die Trennung von den beiden lebensunfähigen Überbleibseln ihrer osteuropäischen Vergangenheit ist da nur ein konsequenter Schritt auf dem Weg in die gebildete Mittelklasse. Doch damit verliert
sich auch schon ihre Spur im Roman, denn diese Horatio-Alger-Geschichte von der Verwandlung bettelarmer Immigranten in wohlhabende Amerikaner wollte Artur Becker nicht schreiben. Und das ist gut so.
Statt
dessen bleibt der Leser im Einwanderer- und später Indianerviertel Winnipegs mit Teofil und Jimmy zurück, und deren Traum vom schnellen Dollar bleibt auch in den besten Zeiten unerreichbar, nämlich während ihrer
Erfolgszeit als Countryband im polnischen Club. So viele grandiose Geschäftsideen die beiden auch haben, vom Sushirestaurant bis zum Handel mit Elektronikwaren, irgendwie macht Onkel Jimmy sie alle wieder kaputt.
Während der überaus naive Teofil sich von Frank Zappas Stimme in seinem Kopf leiten lässt, hat sein Onkel eine eigene und unverkennbare Stimme, die er bei jeder passenden Gelegenheit zu Gehör bringt.
Wenn es sein muss, auch mit Hilfe eines geklauten Kehlkopfgenerators für den Darth-Vader-Effekt. Jimmy ging es bei der Ausreise nach Kanada weniger um das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, für ihn ist weder im
Kommunismus noch im Kapitalismus irgend etwas unmöglich. Er flieht vor dem Gefängnis, das ihm wegen Betrügereien in seiner Heimat droht. Den Unterschied zwischen Ost und West nimmt er gar nicht mehr richtig wahr,
längst lebt er in seiner eigenen, teils dem Wodkarausch herbeidelirierten Welt, die von grenzenlosem Egoismus, Vorurteilen gegen jeden und einer gehörigen Portion Paranoia bestimmt wird. Jimmy ist recht eigentlich
ein Widerling, ein ständig besoffener Schmarotzer, ein Virtuose in der Kunst, ein Ekel zu sein, so sehr, dass er auf der anderen Seite zum Philosophen und Poeten der Anarchie wird.
Immer wieder hören wir
davon, dass Jimmy sich zu allen Ereignissen Notizen macht, und dann und wann bekommen wir auch einen Ausschnitt daraus zu lesen. Hier entfaltet der in Polen aufgewachsene, doch auf Deutsch schreibende Artur Becker
am eindruckvollsten die subversive Kraft von Jimmys Sprache, und man muss es bedauern, dass er nicht Jimmy selbst zum Sprachrohr gewählt hat. Ein Roman, der zum größten Teil aus Jimmys neurotisch
größenwahnsinnigen Notizen bestanden hätte, wäre sicher zu einem so verstörenden wie außergewöhnlichen Buch geraten. So äußert sich die weltfremde Anarchie Jimmys leider nur in vereinzelten Lichtblitzen und
in dem, was wir von Teofil über ihn erfahren.
Diese dritte Geschichte, diejenige, die Artur Becker zu seinem Roman gemacht hat, ist ein Weg der Mitte. Sie bewegt sich zwischen den gegensätzlichen
Schauplätzen Masuren und Winnipeg und schwankt mit dem Erzähler zwischen der Erfolgsstory von Agnes und dem grandiosen Selbstbetrug Jimmys. Indem er Teofil das Wort erteilt, um dessen interkulturellen
Entwicklungsroman zu erzählen, hat Artur Becker sich für ein ausgeglichenes Buch entschieden, in dem sich poetische Illusion und brutale Realität ebenso die Waage halten wie Galgenhumor und Verzweiflung. Das
Ergebnis ist eine sympathische Schelmengeschichte in einem nüchternen Liebes- und gänzlich nostalgiefreien Heimatroman.
© Sebastian Domsch
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