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Forum. Literatur in Niedersachsen, Nr. 3/2002
Ein deutscher Schriftsteller aus Polen
Artur Becker schreibt noch einen Roman über seine Heimat
Von Monika Eden
Wer dieses Jahr das Programmheft zum Welttag des Buches und zum Bücherfrühling in die Hand nahm oder auf eines der Plakate
aufmerksam wurde, hatte die Möglichkeit zum unverstellten Blick auf die Folgen einer bibliophilen Leidenschaft. »Wir schauen ins Bücherregal von Artur Becker«, verkündete die Legende. Als Kenner der
zeitgenössischen Literaturszene schaute man dann genauer hin, motiviert von dem Wissen, daß die ungewöhnliche Großaufnahme den Blick auf das Bücherregal eines Schriftstellers ermöglichte, der im
niedersächsischen Verden an der Aller lebt.
Einige der Autorennamen waren gut zu entziffern: Bobrowski, Bowles, Bachmann, sehr viel Bukowski, Brecht, aber auch Handke, Joyce, Janosch, Klemperer, Kundera,
Knapp, und Lenz stehen im abgebildeten Ausschnitt. Ordnung hält Becker im schwedischen Regalsystem – weil seine Bücher ihm noch nicht sehr lange so unmittelbar präsent sind. Seit kurzem erst lebt er mit Frau
und Sohn endlich in einer größeren Wohnung mit eigenem Arbeitszimmer, das es ermöglicht, nicht nur bei Nacht am Küchentisch zu schreiben, wie in den Jahren zuvor. Zwar hat sich an der Arbeitszeit wenig
geändert, Artur Becker ist als Autor und Vater auch Hausmann, seine Bibliothek jedoch verdient jetzt ihren Namen. In der alten Wohnung lagerte sie in Kartons.
Von Masuren nach Verden
Artur
Becker wurde 1968 als Sohn polnisch-deutscher Eltern in Bartoszyce geboren. Im Alter von 16 Jahren siedelte er 1985 aus dem polnischen Masuren nach Verden an der Aller über. Dem Abitur an einem Verdener Gymnasium
folgte ein 18monatiger Zivildienst in einem Behindertenheim bei Bremen und von 1990 an das die Schnittfläche seiner Wurzeln aus-lotende Studium der Kulturgeschichte Osteuropas und der Deutschen Literatur- und
Sprachwissenschaft an der Universität Bremen. Parallel zum Studium arbeitete Becker weiter in der Einrichtung für Behinderte. Ein Lehrauftrag zu neuen Schreibweisen in der polnischen Literatur schloß sich in
Bremen unmittelbar an den Magisterabschluß an. Noch als Student hatte Becker an einer Übersetzerkonferenz in Katowice teilgenommen, längst mit dem Selbstverständnis, nicht in erster Linie Übersetzer, sondern
vor allem Schriftsteller zu sein. Denn bereits im Jahr seiner Immatrikulation begann er, in deutschsprachigen Literaturzeitschriften und Anthologien zu veröffentlichen. Dort präsentierte er sich vor allem als
Lyriker, schon 1994 aber auch mit dem ersten Kapitel eines Romans, an dem er arbeitete. Dieser erste Roman »Der Dadajsee« erschien 1997 in der Kollektion STINT (und wird im Winter 2003/04 als Taschenbuch bei
Droemer/Knauer verlegt). Er brachte dem Romandebütanten im Vorfeld nicht nur ein Stipendium der Heinrich-Böll- Stiftung ein, sondern bald nach der Veröffentlichung die Auszeichnung des Verbandes Deutscher
Schriftsteller »Das neue Buch in Niedersachsen und Bremen«. Seine erste Lesung aus dem preisgekrönten Buch fand 1997 in Oldenburg vor zwei zahlenden Gästen statt. Im Herbst 2001 las Becker als Autor des
renommierten Hoffmann und Campe Verlags im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vor Hunderten von Gästen. In der Zwischenzeit erhielt er das Villa-Decius-Stipendium in Krakau und das Deutsches-Haus-Stipendium in New
York, war zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt eingeladen und machte sich als Schriftsteller über die Region hinaus einen Namen. Als jüngste Auszeichnung erhielt Becker im Frühjahr 2002 als
»Anerkennung für die hohe künstlerische Qualität« seiner Texte das Jahresstipendium für Literatur des Landes Niedersachsen. Das Oldenburger Literaturbüro hat diese Entwicklung von Anfang an verfolgt und den
Schriftsteller seit 1999 als Mentor in Literaturwerkstätten und bei Manuskriptberatungen in seine Nachwuchsförderung eingebunden. So blieb Artur Becker, auch nach dem längst vollzogenen Schritt aus der
literarischen Regionalität, für die niedersächsische Schriftstellerförderung von Bedeutung.
Aufbruch und Rückkehr
Obwohl er in Polen aufgewachsen ist, ärgert es ihn, immer und überall
als polnischer Autor vorgestellt zu werden. Becker veröffentlicht in deutscher Sprache und bezeichnet sich sehr vehement als deutscher Schriftsteller. Die andere nationale Zuordnung erfolgt jedoch nicht zufällig:
Seine Themen und Schauplätze sind offensichtlich autobiographisch geprägt und liegen nicht selten in Masuren. Im Debütroman »Der Dadajsee«, erzählt Becker die Geschichte des Polen Jurek, der zehn Jahre nach
seiner Emigration von Masuren nach Bremen ans Ufer des Sees seiner Kindheit zurückkehrt. In Deutschland war er jedoch, das wird mehr und mehr deutlich, in diesen zehn Jahren nie wirklich angekommen. Ausdruck seiner
Nichtseßhaftigkeit ist sein Leben im Wohnwagen, das die Möglichkeit des ständigen Aufbruchs suggeriert. Die Ehe mit der in Bremen lebenden Schauspielerin Kornelia ist nur Scheinehe für das Bleiberecht, das
begonnene Soziologiestudium wurde abgebrochen. An den Dadajsee kehrt er zurück, nachdem sein Vater gestorben ist. Der See bietet zwar noch immer die Kulisse für ausgedehnte Angeltouren und derbe Trinkgelage, doch
auch in Polen kann Jurek nicht mehr ankommen. Als Position bleibt ihm nur ein Dazwischen, dessen Begrenzungspunkte sich gegenseitig abstoßen, so daß der mögliche Lebensort, der mögliche Lebensentwurf in einer
ständigen Bewegung zwischen Anziehung und Abstoßung aus-balanciert werden will. Auch in Beckers zweitem Roman, »Onkel Jimmy, die Indianer und ich«, den er im Juni 2001 auszugsweise bei den Tagen der
deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt vorstellte, geht es um Nähe und Distanz, um Aufbruch und Rückkehr. Zusammen mit seinem vor dem Gefängnis fliehenden Onkel Jimmy, einem so unerträglichen wie
liebenswerten Chaoten mit philosophischer Neigung, und seiner großen Liebe Agnes wandert der sechzehnjährige Teofil Baker, der im sozialistischen Polen von einer Karriere als Musiker träumt, 1984 nach Kanada aus.
Neun abenteuerliche Jahre später kehrt er mit Onkel Jimmy, aber ohne Agnes zu seiner Familie in das nun postkommunistische Polen zurück. Jede ihrer absurden Geschäftsideen ist gescheitert, und auch die
gemeinsamen Auftritte als Musiker in Kanada hatten eher den Stellenwert grotesker Parodien.
Alte Themen, neue Töne in der Lyrik
Das Changieren zwischen Nähe und Distanz bestimmt auch Artur
Beckers Position zur deutschen Sprache. Längst ist sie ihm so vertraut, daß er nicht nur ein sprachlich eher boden-ständiger Romanautor, sondern mehr noch ein wortsensibler Lyriker ist. Dennoch vermag er der
Sprache, die er sich in Deutschland erst aneignen mußte, noch immer erstaunt und ohne jede Selbstverständlichkeit zu begegnen. Die Antriebskraft seiner Romane liegt in den Geschichten, die sie erzählen wollen.
Hemdsärmelig wie ihre Protagonisten, Figuren, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen und deren Entwurf die große Sympathie erahnen läßt, die der Autor für sie empfindet, präsentiert sich die schlichte
Prosa in knappen Sätzen. Sie ist dialoglastig, denn ihre griffigen Charaktere sind üppig mit Fleisch und Blut ausgestattet. Sie müssen reden, trinken, essen, lieben und hassen. Sie tun es obsessiv. Aus dem
Lyriker Artur Becker tönt es unerwartet anders. Überhaupt sollte unbedingt auch seine Lyrik lesen, wer den Schriftsteller kennen lernen möchte. Beckers erste umfangreiche Gedichtsammlung erschien 1998 neben dem
kleinen Band »Jesus und Marx von der ESSO-Tankstelle« unter dem Titel »Der Gesang aus dem Zauberbottich« in der Kollektion STINT bei Hauschild, Bremen. Vielstimmig und frisch ertönt der Gesang aus dem
umfangreichen, in Zyklen unterteilten Lyrikband. Er sprudelt aus dem Zauberbottich, wie aus einer reichen Quelle und steckt die großen Themen von Beckers Lyrik klar ab. Es sind in konzentrierter Dichte die Themen
aus seiner Prosa. »Auf der Suche nach neuen Themen/ Stoße ich auf die alten/ Wieder und wieder« heißt es im Gedicht »Gottessüchtig«. Religiosität und Spiritualität bildet in vielen Gedichten die
Grundlage, ohne deren Berücksichtigung die Geschichte Masurens und Polens, die in persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen greifbar wird, unverständlich bleibt. Auch das aktuelle Leben Beckers in der Nähe von
Bremen hält Einzug in seine Lyrik. Ausgelotet wird die eigene Position zur Sprache, die sowohl die Sprache des Dichters untersucht, als auch an der Sprache die Position des Autors zwischen Deutschland und Polen
festmacht. »Fragt mich nicht / Was ich hier / In diesem Land tue / Fragt mich nicht / Warum ich nicht / Nach Polen/ Zu den masurischen Seen / Zurückgehe / …/ Ich bekomme schon mein Leben/ Irgendwie in den
Griff / Ob auf Deutsch oder auf polnisch«. Noch ausgereifter präsentiert sich der zweite Lyrikband »Dame mit dem Hermelin«, der 2000 im Bremer Carl Schünemann Verlag erschien. Auch dieser Band ist in Zyklen
unterteilt, deren Schwerpunkte durch verschiedene geographische Orte definiert sind. Und auch dieser jüngere lyrische Gesang kreist um die bereits bekannten Themen. Seine Lyrik sei stark philosophisch orientiert,
sagt Artur Becker. In ihr bringt er Positionen zur Sprache, die er auch in einem Essay formulieren würde. Die Essays, die in der Vorstellung des Lesers aus den Gedichten entstehen, werfen vor allem Fragen auf. Ihr
Verständnis erfordert umfangreiche historische und kulturwissenschaftliche Kenntnisse. Schon den Gedichten fügt Becker manchmal, Fußnoten gleich, Erklärungen an, die sich auf Personen, Orte und historische
Ereignisse beziehen.
Heimat und Aufbruch
Nicht nur die Themen der Lyrik Beckers finden sich in seinen Romanen wieder. Bis in die Motive und Bilder hinein reichen die Parallelen. Bahnhöfe
werden dem lyrischen Ich als Orte des Übergangs zu Wohnorten. Am Bahnhof von Rothfließ sitzen Onkel Jimmy und Teofil als tragische Helden auf ihrem alten Koffer, nicht um in ein neues, ersehntes Leben
aufzubrechen, sondern in der Unmittelbarkeit ihrer Rückkehr, ihres Scheiterns. Einen Zufall nennt Becker die Tatsache, daß seine neue Verdener Wohnung direkt am Bahnhof liegt. Auch die masurischen Seen der
Kindheit, die exzessiv besungen werden, symbolisieren Orte, die für so etwas Abstraktes wie Heimat stehen und markieren Möglichkeiten des Überganges. Generell scheint für Artur Becker zwischen Heimat und
Aufbruch eine enge Verbindung zu bestehen. Die Sehnsucht der Romanauswanderer nach Kanada teilt im Lyrikband von 1998 das lyrische Ich »Laßt mir bloß / Ein paar Groschen über / Damit ich mir ein Flugticket /
Nach Kanada kaufen kann / Ich würde noch so gerne / Ein paar Bären schießen«. Beckers Literatur ist noch nicht in Deutschland und Verden angekommen, obgleich er dort inzwischen ebenso lange lebt, wie zuvor
in Masuren. Bisher findet Deutschland nur als Durchgangsstation Beachtung, als Etappe auf einer Reise, als Anlaß für den Aufbruch. Das wird sich auch im Erzählband »Die Milchstraße«, der im August erscheint,
nicht ändern. Der Alltag in Deutschland sei ihm zu langweilig und unpoetisch, lautet sein hartes Urteil. Das habe viel mit der Dauer und Stabilität der westdeutschen Demokratie zu tun. In seiner bisherigen Prosa
war der sich langsam anbahnende Untergang des Sozialismus, der die Protagonisten und ihre gesellschaftlichen Möglichkeiten bestimmte, stets latent gegenwärtig. Ein weiterer wichtiger Aspekt seiner Literatur, das
Bewußtsein für Metaphysik und Religiosität, fehlt dem Autor in Deutschland ebenfalls. Dennoch ist es ihm ein großes Bedürfnis, endlich die retrospektiv orientierte Prosa abzuschließen. Ein dritter Roman,
»Kino Muza«, der ausschließlich in Bartoszyce spielen wird, soll die polnische Vergangenheitstrilogie beenden.
© Monika Eden
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