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Zukunft nur vielleicht
Artur Beckers Geschichten erzählen von leidenschaftlichen Grenz-Erfahrungen
Von Mathias Schnitzler
In Rothfließ, Masuren begann und endete die groteske Amerikareise zweier polnischer Argonauten in Artur Beckers letztem Roman „Onkel
Jimmy, die Indianer und ich“. Die Erzählungen seines neuen Buches „Die Milchstraße“ spielen mit zwei Ausnahmen ebenfalls in der masurischen Heimat des 1985 als Spätaussiedler nach Deutschland emigrierten
Autors. Das ehemalige Ostpreußen ist in Beckers Büchern allgegenwärtig, da drängen sich dem deutschen Kritiker zwangsläufig Siegfried Lenz und sein Bekenntnis aus dem „Heimatmuseum“ auf: dass Weltkunde mit
Heimat beginne – oder mit ihr ende.
Ich habe während meines Germanistikstudiums Siegfried Lenz als meine Vaterfigur gefoltert und umgebracht, ohne zu ahnen, dass ich
eines Tages im selben Verlag wie er veröffentlichen würde. Siegfried Lenz schätze ich sehr, weil er einer der besten deutschsprachigen Erzähler ist. Der ständige Vergleich mit ihm ist aber in vielen Punkten nur
eine Hilfe für den Rezensenten, der sich orientieren will, und meistens werden Klassiker zitiert und herangezogen. Was habe ich mit Siegfried Lenz zu tun? Er wurde in Lyck geboren, vor 1945. Ich in Bartoszyce,
nicht mehr in Bartenstein, und nach 1945. Er musste fliehen, ich bin mehr oder weniger freiwillig gegangen - zu meinen Eltern, die in der BRD lebten. Ich glaube, uns verbindet zwar eine Tragödie des 20.
Jahrhunderts, nämlich die des deutschen und russischen Wahnsinns unter Hitler und Stalin, aber wir haben sie beide anders erlebt.
Das in der Realität meist schmerzvolle Thema der Auswanderung, des Identitäts- und Sprachverlustes, das wie ein leise angestimmter
Mollakkord die temporeich erzählten Anekdoten in „Onkel Jimmy“ hintergründig kontrapunktierte, ist in der „Milchstraße“ zu einer tragenden Stimme geworden. Es dominieren ernste Geschichten mit ruhiger,
personaler Erzählsituation über den Zwiespalt der Gefühle, der sowohl den Fortgehenden als auch den Zurückbleibenden zu schaffen macht.
In der längsten und besten Erzählung „Der Pass“ hat Becker die letzten Tage eines jungen Mannes vor der Ausreise aus dem
sozialistischen Polen nach Deutschland eingefroren. Liebe und Erinnerung, das Schwanken zwischen Hoffnung und Furcht sowie die latent vorhandene Stimmung eines Verrats an der Heimat werden auf eindringliche Weise
verbunden mit Beschreibungen der masurischen Seen- und Wälderlandschaft. Daneben gibt es einige komische, skizzenartige Geschichten mit vermeintlich naivem Ich-Erzähler in der Tradition der Schelmengeschichte. Sie
sprengen die melancholische Stimmung des Buches und kompensieren die Sprachlosigkeit der Auswanderer mit heiterer Logorrhöe.
Mir gefallen beide Erzählformen: Ich- und Er-Erzähler. Der Er-Erzähler ist bei mir immer dunkel und scheinbar ernster als der
Ich-Erzähler. Vergessen Sie aber nicht, woher diese Färbungen kommen: Der Er-Erzähler steht unter starkem, archaischem, biblischem Einfluss, während der Ich-Erzähler ein Produkt der Moderne ist, folglich muss
er noch lange üben, bis er die Perfektion seines viel älteren Bruders erreicht. Ich bin mir aber sicher, dass weder Ich- noch Er-Erzähler sich bei mir voneinander diametral unterscheiden, denn beiden liegt
eine gemeinsame Quelle zugrunde: die Leidenschaft, Menschen und ihre Lebensgeschichten zu beschreiben.
Artur Becker, der neben Hemingway und Steinbeck vor allem den polnisch jiddischen, in die USA emigrierten Autor Isaac Singer als Vorbild
nennt, hört es nicht gerne, wenn man ihn als polnischen Autor ankündigt. Becker, Jahrgang 1968, besitzt einen deutschen Pass und schreibt wie seine Kollegen Radek Knapp und Dariusz Muszer in deutscher Sprache.
Über Deutschland hat er bisher kaum geschrieben. Taugt die bundesrepublikanische Wirklichkeit nicht für die Literatur?
Vieles, wenn nicht fast alles, spielt nicht in Deutschland, was mehr oder weniger an diesem Land liegt, weil es mir doch sehr leer
vorkommt. Ich spüre hier keinen Blues, keine Natur, keine Tragödien, keine Komik. Es ist ein Arbeits- und Schlafzimmer. Ein Aufbewahrungsort ohne Vergangenheit und Gegenwart. Zukunft nur vielleicht. Ich liebe die
deutsche Sprache, aber das Land ist mir etwas gleichgültig. Und die Deutschen? Normale Menschen wie überall. Mit eigenartigen Macken, aber welche Nation hat sie nicht?
Manchmal sind Emigranten auch ein bisschen selbstgefällig und ungerecht. Beckers nächster Roman „Kino Muza“ wird immerhin zu einem
großen Teil in Deutschland spielen. Ein Gewinn für die junge deutsche Literatur ist Beckers schwadronierende Melancholie bereits jetzt.
© Mathias Schnitzler
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