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Düren schließen!
Michael Lentz hat den 25. Bachmann-Wettbewerb gewonnen
In einer Landschaft, „die Geschichte und Geschichten erzählt“, steht oberhalb des Faaker Sees die Burgruine Finkenstein. „In den
erhaltenen Überresten des ehemaligen Prachtbaus“ aus dem zwölften Jahrhundert gibt es eine tausend Personen fassende Arena für Veranstaltungen verschiedenster Art. So erzählt es www.yumyum.cc. Am 12. Juli auf
Finkenstein: die „Beatles Double Group“. Sagt das Plakat auf dem Klagenfurter Hauptplatz, während beim Stadtfest ABBA aus den Boxen jault.
„Es ist das Jahr 1978. Drei Tage bevor Lutz Schobert zu Katja sagt: ’Jetzt sei doch einmal vernünftig!‘. Eine Woche, bevor Perkow
auf einer Bettkante in Luanda den Satz hört: ’Ihr Ärmsten, man sieht euch immer gleich alles an!‘ Sieben Jahre, nachdem die ersten Export LKWs W 50 das Automobilwerk Ludwigsfelde in Richtung Sowjetunion
verlassen haben.“ Das klingt ein wenig nach Uwe Johnson, nach Wolfgang Koeppen, doch „Das Märchen von der selbstgewählten Entführung“, die Geschichte von Antje Rávic Strubel, die den dritten Preis erhielt,
war mit ihrer lyrischen Sprachphantasie einer der Höhepunkte der „Klagenfurter Tage zur deutschsprachigen Literatur 2001“.
Aber zu Beginn war beinahe alles ABBA. Retro ohne Bewusstsein. Geschrieben, vorgetragen, als wäre neu, individuell, was man da hört:
Eine Ost- West-Beziehungkiste (Katrin Askan), einmal Unterhaltungspop (Philipp Tingler), ein Avantgarde-Spiel (Ulrich Schlotmann), eine Kulturkritik (Ludwig Laher), eine Nazi-Bewältigungsgeschichte (Tanja Langer),
einmal Erotik und Philosophie (Robert Fischer), dann das Ende der Politik (Annegret Held).
„Daraufhin schaffte sich mein Onkel aus Spendengeldern für Immigranten und Indianerreservate einen Rollstuhl an. Manchmal fährt er
damit downtown und bettelt." Artur Becker, 1968 in Mauren geboren, wollte nichts Neues schreiben. Er erzählte eine reine Genre-Geschichte: Von Teofil Baker und seinem versoffenen Onkel Jimmy, der brüllt und
sich durchmogelt in Kanada. Dann aber mit Teofil wiederkommt, zum alten Bahnhof von Rothfließ oder Czerwonka. Eine Emigrantenstory, mit viel Whiskey, Geld, Zigaretten, einem Kehlkopfgenerator, dem Indianer
Babyface, der Mafia.
Im Hochparterre
Becker ging leer aus. Die Jury hatte Mühe mit dem Genrecharakter der Geschichte, der in einer Zeit der Stil-Retrospektiven seinen Grund
hat. Das Genre demonstriert eine fröhlich-resignative Haltung. Wo der Gedanke an „das Neue“ selbst schon alt ist, wo man nach einer halben Seite entdeckt, in welche Schachtel etwas gehört, wird das Genre zum
kleinen Abenteuer, das von vornherein bescheiden zugibt, auf Versatzstücken zu balancieren, sich in die Kulissen der Vergangenheit zu verziehen, wo man allenfalls Genre-Grenzen sprengt oder erweitert. Um auf diese
Weise, im Hochparterre der Postmoderne, das alte Avantgarde-Spiel von Tradition und Veränderung unangestrengt fortzusetzen.
„Tradition“, sagte der Münchner Michael Lentz im Kandidaten- Vorstellungsfilmchen für Klagenfurt, „ist immer größer als wir.
Wir können nur ein bisschen dran kratzen.“ Doch was hat dazu beigetragen, dass gerade die Geschichte von Lentz, der den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, schon gleich nach der Lesung als
„unverwechselbar“ und ihr Autor als einer der Favoriten galt. War es der Schnitt in die Stirn?
„Mutter verschwand am zwanzigsten august neunzehnhundertachtundneunzig gegen dreiundzwanzig uhr und fünfzig minuten. Am
einundzwanzigsten august neunzehnhundertachtundnenunzig gegen acht uhr dreissig minuten rief Vater an und teilte es mir mit: Mutter ist gegen dreiundzwanzig uhr und fünfzig minuten diese nacht gestorben. Ich ging
ins bett zurück und setzte die am abend zuvor unterbrochene lektüre des entencomics fort.“
Mutter ist wirklich verschwunden. Sie ist in Düren an Krebs gestorben. Michael Lentz ist 1964 in Düren geboren, sein Vater, der in der
Geschichte nicht gut weg kommt, war in Düren Oberstadtdirektor, wie der Vater in der Geschichte. Hat die Schwemme peinlicher Autobiografien selbst Klagenfurt erreicht, dieses verschrieene Reservat germanistischer
Kopf-Texte?
Nein. Lentz macht es besser als viele vor ihm. Dem Schnitt ins Herz folgt der zweite Schnitt, zu dem viele kleine gehören: Beinahe
alles, was auf dem Papier wie Sentimentalität wirken könnte, ist entfernt, die Tränen, so geflossen, sind abgetupft. Nie kam die Jury auf den Gedanken, auf den persönlich-dramatischen Charakter der Erzählung
verweisen zu müssen. Es ist eine notorische Nüchernheit, mit der Lenz vom Sterben der Mutter erzählt, vom kalten Umgang des Vaters damit, von der konsternierten Hilflosigkeit des Sohnes.
„Wir sind“, sagte Juror Burkhard Spinnen, der Lentz eingeladen hat, „alle aus Düren“. Deutschland ist ein Land der
Kleinstadtbewohner, die gerne in Großstädte ziehen und die Enge dabei nicht immer verlieren. Doch ist Provinz-Kritik nach jahrelangem metropolitanem Gerede nicht selber provinziell? Den Umgang mit dem Tod, das
Sprechen darüber, lernt man hierzulande an wenigen Orten.
Bettversunken
Um so besser, dass Lentz den Text mit neuen Wörtern wie „tränendurchschossen“, „bettversunken“ angereichert hat. Mit furiosen
Düren- Charakterisierungen wie: „Mit ausnahme des museums ist diese stadt bitte dringend zu schließen! Eine stadt, die im krieg zu achtundneunzig prozent zerstört wurde, hätte bessser nicht mehr aufgebaut
werden sollen. Man hätte alles so stehen und liegen und verrotten lassen sollen. Dann hätte man noch fünfzig Jahre nach dem krieg menschen und frauen aus aller herren länder da mal hinführen können mit dem
satz: Das ist der Krieg. Bitte alle Düren schließen.“ Schade, der Kalauer zum Schluss, der zum Sprachspieler Lentz gehört.
Michael Lentz’ Text ist auch einer über die BRD. Das Land ist mit seiner jüngsten Vergangenheit noch nicht fertig: Alle drei anderen
Preise gingen an „Ost-Frauen“ und ihre Ost-(Kriegs)-Geschichten: neben Antje Rávic Strubel (Ernst Willner-Preis) an die handwerklich gute Jenny Erpenbeck (Preis der Jury), unverständlicherweise auch an die
gefühlige Katrin Askan (3sat- Stipendium).
Und wie üblich die Anti-Jury-Stimmung während des Wettbewerbs. Fast als wolle sie Lentz’ implizite These vom Land der abgestumpften
Empfindung bestätigen, zeigte sie gerade bei vielen schwächeren Texten eine leidenschaftslose Interpretationsbeflissenheit, die sich der Woche verdankt, die die Juroren seit einigen Jahren haben, um sich
vorzubereiten. Brav wird eine halbe Stunde gefüllt, auch wo das Wort „schwach“ genügte.Die Zeit scheint reif für eine Rückkehr zur Spontankritik, die die Wahrnehmung von Publikum und Jury angleicht, die
keine Spektakel-Gerechtigkeit vortäuscht, die es ohnehin nicht gibt.
Und so ist es vermutlich überflüssig, darauf hinzuweisen, dass Rainer Merkels Initiationstext aus der Welt der neuen Medien, des
e-business, in dem der Berliner selber gearbeitet hat, zu Unrecht übersehen wurde. Merkels Auszug aus dem Roman „Das Jahr der Wunder“, der im Herbst bei S.Fischer erscheinen wird, stellt seinen Helden in die
unübersichtlichen Gebäude der GFPD, einer Firma, von deren Arbeit er keine Ahnung hat, bei der man sich nicht bewerben kann, die er ohnehin nicht versteht. Und doch sitzt er plötzlich zwei Herren gegenüber,
denen er klar machen muss, dass er der richtige Mann für einen Job ist, den sie selber nicht definieren können. „Kreativ“ soll er sein. Rainer Merkel hat die Kälte von Lentz. Und er beschreibt, was uns alle
interessiert. HANS-PETER KUNISCH
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