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Norddeutscher Rundfunk
Köpfe werden rollen
Von Wend Kässens
Der Dadajsee in der masurischen Seenplatte in Polen, nicht weit von der russischen Grenze, ist das innere Auge dieser Geschichte, die vom
harten Leben erzählt, von der körperlichen Arbeit, von Armut und Elend, von der Liebe, vom Sex und vom Tod. Und von der Seele, die nicht zur Ruhe findet, solange eine Vergangenheit nicht gesühnt ist, in der die
Menschen sich Gewalt angetan haben, die dann in beißenden Haß umgeschlagen ist, der sich staut. Von Anfang an ist das Leben ein Irrtum: Der Fischer und Bauer Jan Majer erleidet 52jährig den Herztod im Badezimmer
seines Hofes. Er war ein verkappter Naturphilosoph, dem der Tod der Fische näher ging als die Flucht seines Sohnes Jurek nach Deutschland und die zunehmende Verkrüppelung der Menschen um ihn herum in
Sprachlosigkeit, Arbeit und Wodka. Einmal im Monat fuhr er in die Stadt zum Bumsen, weil seine Frau, die Barbara, ihm zu fett, zu alt und zu häßlich war. An einem Mittwoch um zehn Uhr morgens im Juli des Jahres 1990
wird er wunschgemäß und gegen den Willen des angereisten katholischen Geistlichen auf seinem Grundstück beerdigt. An der Leichenfeier nimmt auch Magda, die noch nicht 24jährige Geliebte und Hure aus der Stadt teil -
obszöne Anspielungen von Jans betrunkenem Bruder Herbert beendet Barbara mit einer Flasche Wodka, die sie ihm auf den Kopf haut. Herzlich, aber derb geht es zu in dieser masurischen Einöde, wo die Seele nicht
geschont wird, da kann auch der Körper einige Schläge verkraften, wie Jureks Jugendfreund Ludwik erfährt. Aber der harsche Auftakt mit satirischem Kleinbürgerbegräbnis täuscht. In vier Abschnitten erzählt der Roman
sensibel von vier eng miteinander verknüpften Lebenskreisen, Verwandten und Freunden, die sich bis nach Bremen ausdehnen, wo Jurek zwischen Soziologiestudium und Arbeit im Jugendheim pendelt. Der Tod des Vaters ist
der Anlaß für eine Reise in seine Heimat, zu der er seine deutschen Freunde mitnimmt. Nach mehr als 10jähriger Abwesenheit trifft er am Dadajsee wieder auf seine Familie, auf alte Bekannte und neue Gesichter. Der
Tod kam dem Hass zuvor, die übermächtige Vergangenheit kann er nicht verdrängen. Jurek und Ludwik stillen den Hass. Sie lassen Köpfe rollen, das ist wörtlich zu nehmen, und entsorgen die gewaltätige Vätergeneration
im See. Für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen, der Dadajsee ein Meer des Friedens zu sein. Artur Becker, 1968 in Bartoszyce in Polen geboren, 1985 nach Deutschland übergesiedelt und heute als
Schriftsteller und Übersetzer in Verden zu Hause, hat einen ersten Roman geschrieben, der uns mitten hinein versetzt in die ländliche Armut Ostpreußens in der schwierigen Übergangszeit Ende der 80er, Anfang der 90er
Jahre. Die deutsche Vergangenheit ist gegenwärtig, wirkt in die polnische Gegenwart, in der die Frauen zwar das Abitur, zum Lebenserwerb aber oft nur ihren Körper haben, während die Männer dem kargen Boden und den
Seen das Überlebensminimum abringen. Die Schwächen dieses Buches sind typisch für einen ersten Roman. Nicht immer ist die Komposition ganz schlüssig, hier und da sind auch sprachliche Unsicherheiten erkennbar. Aber
seine Stärken überwiegen bei weitem. Sie liegen in der atmosphärischen Dichte des Erzählten, einem hohen Grad von Authentizität und Sympathie für die Menschen. Völlig zu Recht hat Artur Beckers Roman "Der Dadajsee"
kürzlich den Preis des Schriftstellerverbandes Niedersachsen/Bremen für das beste neue Buch erhalten.
© Wend Kässens, Norddeutscher Rundfunk
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