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Financial Times Deutschland, 21.09.01
Auswanderer-Blues
Von Jan Wagner
Rothfließ, ein kleiner Ort in Masuren: Hier beginnt Artur Beckers neuer Roman, und hier endet er, nachdem in einer neun Jahre
umfassenden Rückblende die turbulenten Erlebnisse des jungen Erzählers Teofil Baker, seiner Freundin Agnes und seines Onkel Jimmy Koronko in Kanada geschildert worden sind. Mit gänzlich unterschiedlichen
Hoffnungen verlässt das Trio 1984 das sozialistische Polen und versucht, sich in der neuen Welt, sprich: in Winnipeg, eine Existenz aufzubauen. Jimmy und Agnes bilden dabei die extremen Pole, zwischen denen sich
der unentschlossene Teofil bewegt: Agnes ist zielstrebig, passt sich ihrer Umgebung nahtlos an – und verlässt ihr Mitauswanderer denn auch bald. Jimmy dagegen bleibt sich treu, sieht sich alte Western an und
ernährt sich von Schweinshaxen und Dosenbier. Er ist ein trinkfreudiges und engstirniges Raubein, das sich mit teils dubiosen Tätigkeiten – »Import-Export, Gartenpflege, Schneeraupe und Tanzkapelle« – über
Wasser hält. »Manchmal bin ich so verzweifelt, dass ich am liebsten von einer Brücke springen würde, weil sich Jimmy von nichts und niemandem belehren lässt«, sagt Teofil. Nun sind die Weisheiten des Onkels
selten über Stammtischniveau. Um so erstaunlicher ist es, dass Becker ihn äußerst glaubhaft als faszinierendes Original zu vermitteln vermag, ebenso wie den Indianer Babyface, mit dem zusammen die Männer eine
polnisch-indianische Minderheiten-WG bilden, und wie den Restaurantbesitzer Grzybowski, der die »Affen aus dem kommunistischen Zoo« mit ihrer Polka-Kombo bei sich auftreten lässt. Einzig Teofils Liebesbeziehung
zur Amerikanerin Janis wirkt wenig überzeugend. Becker schneidet durchaus ernste Themen an – Exil, Identitätsverlust, Armut, die Umwälzungen in Osteuropa. Doch zugleich gelingt ihm ein größtenteils
amüsantes, leicht erzähltes Auswandererporträt zwischen Schnoddrigkeit und Wehmut.
© Jan Wagner
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