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Radio Bremen 2, 1998
Zwischen Masuren und Steintorviertel
Der Dadajsee - ein preisgekrönter Roman des polnischen Schriftstellers Artur Becker
Von Cristián Cortés
Die Figur des Verlierers ist in der Erzählkunst wieder gefragt. In den 80er Jahren standen der erfolgsbesessene Yuppie, seine gleißende
Börsenwelt und die dazugehörigen Luxuspartys im Mittelpunkt der Romanliteratur. In den 90ern dann übernahm ein vereinsamter und in seinem Bauchnabel nach dem Sinn seines isolierten Daseins grabender Großstädter die
Rolle des Romanhelden. Nun aber rückt wieder der romantische Verlierer in den Vordergrund, als Antiheld und Protagonist dieser tragischen Kehrseite des Erfolges, des Scheiterns.
In diesem Trend liegt auch das Erstlingswerk des 1997 mit dem Preis Das neue Buch in Niedersachsen und Bremen ausgezeichneten deutsch-polnischen Schriftstellers Artur Becker. Der Dadajsee heisst sein Roman,
der von der Lebenseinstellung seiner Hauptfiguren her an den Ausruf eines spanischen Anarchisten vor dem Hinrichtungskommando erinnert: VIVA EL PERDER!
ES LEBE DAS VERLIEREN! Vor allem gilt dies für die polnischen Romanfiguren: die alte Bäuerin Barbara, Onkel Herbert diesen trinkfreudigen Fischer und Wilderer -, Magda die junge Prostituierte. Menschen, für die es im Leben schon zu spät geworden ist, die sich ihrer Fragilität und dem Scheitern ihrer Träume bewusst sind, und sich an das Gefühl klammern, es passiere nie etwas Wichtiges um sie herum, was sie versäumen könnten. Für diese Menschen gib es keine Geheimnisse mehr.
Masuren, Verden, Bremen sind die drei Stationen dieses Buches. Artur Becker erzählt die Geschichte eines posthumen Vatermordes. Jurek, ein 30jähriger Soziologiestudent aus Wilimy im polnischen Masuren, ist
nach Deutschland ausgewandert und lebt in Bremen, in einem Wohnwagen. Durch die Scheinehe mit der im Bremer Stadtteil Steintor wohnenden Schauspielerin Kornelia hat Jurek sich das Bleiberecht für Deutschland
gesichert. Längst hat der exzentrische Pole das Studium aufgegeben, arbeitet als Erzieher in einem Jugendheim und verdient sich ein Zubrot durch den Verkauf von Medikamenten an ein Krankenhaus in Polen. Es sind
Medikamente, die kurz vor dem Verfallsdatum stehen.
Eines Tages stirbt sein Vater und Jurek fährt in Begleitung von Kornelia und zwei deutschen Freunden wieder an das Ufer des Dadajsee, wo sein von ihm so
gehasster Vater im Garten begraben worden ist. Eigentlich hatte Jurek beschlossen, nie wieder ins heimatliche Masuren mit seiner idyllischen Landschaft zu fahren, dem Schauplatz seiner Kindheit, das längst für ihn
kein Zuhause mehr darstellt. Und so wird seine Reise nicht gerade zur ruhmreichen Rückkehr nach Ithaka. Im Gegenteil. Sie mündet in einen leichenschänderischen Alptraum.
Artur Becker meidet stets den Begriff
"Heimat". Spricht statt dessen lieber von Zuhause, von Landschaft und von Erinnerungen; Kindheits-Erinnerungen. Stellvertretend für all dies steht der masurische Dadajsee, der die Fischer zu Wilden macht, in deren
Adern das Blut der Fische fließt, ein schwarzes, bitteres Öl. So ist denn auch das Bekenntnis von Onkel Herbert zu verstehen, das er Jurek ins Gesicht schleudert: "Ich kenne diesen See, ich habe aus ihm getrunken,
ich esse aus ihm, und ich habe ihn niemals verlassen". Doch Jurek haßt diesen See, über dem stets ein kalter Mond scheint, weil er ihn zum Schwächling hat werden lassen, zu schwach, um in der Welt zu überleben.
Darüber hinaus aber ist Beckers Dadajsee ein Sinnbild für eine überall vorhandene Heimat, und diese hat ihre Wurzeln im Wasser, ganz gleich ob in den masurischen Seen, im Strom eines norddeutschen Flusses, oder im
bremischen Regen. Das Wasser als das Zuhause des Menschen, als seine fliessenden Wurzeln. Der Nässe verbunden, verbringen die Romanfiguren viel Zeit mit Fischen, erfinden die ausgefallensten Techniken, um Aale,
Maräne und Plötze an die Angel zu bekommen. Und sie trinken Unmengen von Bier, Wodka, Sekt, Wein und Gin. Die Kehrseite dieser masurischen Welt ist das Steintorviertel in Bremen, das der Autor als ein dreckig-gelbes
Labyrinth beschreibt, in dem die Häuser nie zur Ruhe kommen, und an dessen Straßenecken Gestalten mit blassen, weißen Gesichtern herumstehen.
Becker bedient sich immer wieder einer poetischen, stimmungsvollen
Sprache: etwa wenn er den Himmel über der Weser beschreibt, die Wintersterne des Orion, diesen roten Nebel, dort wo das Sonnensystem beginnt, so unendlich weit entfernt vom Zentrum der Milchstraße, Lichtjahre von
Aldebaran und den Plejaden getrennt; ein flimmernder Kosmos, der in seiner unermesslichen Weite, den Romanfiguren die brüchige Vergänglichkeit ihres Daseins besonders spürbar werden lässt. Daraus resultiert
schließlich die erzählerische Spannung, aus einem ständigen Kontrapunkt, bei dem Becker den lyrisch-zarten Passagen, grausame, brutale Bilder eines obszönen Todes entgegensetzt; etwa wenn er Jurek inmitten einer
Liebesszene, Kornelia ins Ohr flüstern lässt: "Ich fick dich tot".
Eros und Thanatos - der Erzähler scheint uns unbedingt an diese beiden Pole unseres Lebens erinnern zu wollen, und schaut dabei seinen
Romanfiguren allzu gerne unter den Rock. Dadurch zwingt er den Leser in die Rolle des Voyeurs: die 24jährige Magda masturbiert nachts im Freien unter ihrem grünen Kleid; Jurek reibt sich seine Genitalien in
Kornelias Wohnungstür. Sicher spielt Artur Becker hiermit auf seine Vorbilder an: allen voran Charles Bukowski und die Poeten der Beat-Generation in den USA. Doch solche Szenen sind wenig glaubhaft und wirken eher
künstlich und prätentiös.
Aber abgesehen davon versteht es Becker, seine Geschichte in kurzen, prägnanten Sätzen zu erzählen. Von dem US-Schriftsteller Scott Fitzgerald stammt der Satz: "Die Gültigkeit eines
Schriftstellers beruht mehr auf dem, was er weglässt, als auf dem, was er von sich gibt". Und eben dies ist das große Verdienst des 30jährigen polnischen Autors: seine dichte wie schlichte erzählerische Sprache.
Ähnlich wie in der Prosa eines Ernest Hemingway schreibt Becker in knappen, transparenten Sätzen, mißtraut jeder Adjektivierung und hält sich an das Wesentliche seines Erzählstoffes: die Handlungen und die Motive
seiner Antihelden. Nur so konnte er dieses Buch in Deutsch schreiben: gestützt auf eine klare Syntax, durch die seine Sprache eine fast archaische Ausdruckskraft und ihren verführerischen Zauber bekommt.
Der
Dadajsee ist ein fesselnder und teilweise unheimlicher Roman über entwurzelte Menschen, voller Poesie, Tragik und Komik, eine sinnbildliche Beschwörung zweier wassergetränkter Landschaften, Masuren und das flache
Gebiet um die Weser, als die beiden Pole eines gleichen Lebens.
© Cristián Cortés
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