Artur Becker
Ein Kiosk mit elf Millionen Nächten
Gedichte
© STINT Verlag, Bremen 2008

 

In der Kopernikusstraße

Dort in der Kopernikusstraße
Bin ich aufgewachsen
Wie ein Sternenfänger der alle Wrackteile
Vom Himmel holt
Die alten Raketen die Solarzellen die Satellitenarme
Dort in der Kopernikusstraße
Wurden Leichen vergraben
Die Gestapo und die Beamten vom polnischen Sicherheitsdienst
Die zwischen den Menschewiken und Bolschewiken
Nicht unterscheiden können
Spielten oft Rugby
Die Autofahrer mussten stundenlang das Hupen üben
Meine Großmutter eine hundertjährige Katholikin
Klatschte aus dem Fenster bravo bravo noch mehr
Noch lauter
Dort in der Kopernikusstraße
Hat Zefiryn Frankowski aus Posen
Den ersten gerechten Waffenhandel betrieben
Ein Marxist gibt alles umsonst ab
Stand auf seinem T-Shirt
Der geniale Mann muss mein Großvater gewesen sein
Dort in der Kopernikusstraße
War ein siebenhundert Jahre alter Keller
Mit geheimen Gängen der Freimaurer
Der Fußboden war aus rotem Stein
Im Winter schliefen auf ihm Ratten und Bürgerrechtler
Aber am liebsten waren mir die grauen Schornsteinfeger
Sie brachten aus dem Kosmos Nadelbäume und Mücken
In großen Eiscontainern
Alles war umstellt das Haus die Gartenfelder für die Schnecken
Die Treppe in den Keller endete im Mittelpunkt der Welt
In der Kopernikusstraße
Hingen Bilder mit meinen Verwandten
Als ich fünf war fiel mir die Heilige Maria auf den Kopf
Sie hatte den schwersten Rahmen aus Eiche
Ich bin bis heute etwas erstaunt
Über die Stärke des Glaubens
Dort in der Kopernikusstraße
Blieb für mich die Sonne stehen
Als ich das erste Mal sah
Wie ein Kind gezeugt wird
Nämlich im Fernseher auf flachem Bildschirm
Per Knopfdruck
Dort in der Kopernikusstraße
Müssen Tote auferstehen
Sage ich mir oft
Die Schwejks und Don Quichottes
Ich habe sie schon lange nicht mehr wiedergetroffen
In dieser Straße übte ich bis zum Umfallen Hamlet
Wie Omelette hörte sich das an
Beurteilt Zefiryn Frankowski aus dem Geisterzimmer
Dort in der Kopernikusstraße
Wachsen immer noch Wiesen und Koppeln
Für uns Grasfresser
Dort liegt ein Garten schattenlos
Im Hinterhof
Ameisen haben sich dorthin verirrt
Zu den Pflaumenbäumen und Möhren
Mit einer Lupe sehe ich unter die Erdhaut
Immer auf der Lauer
Welche Steine am reinsten singen
Mir geht die Puste aus
Wenn ich mich verkleinere
Der wahnsinnige Gulliver beschäftigt mich die ganze Zeit
Dort in dieser Straße fahren keine Straßenbahnen
Und es gibt keinen Taxistand
Wenn du ans Verreisen denkst

 

 

C+M+B+

Kaum dass ich aufgestanden war
Meldeten sie sich wieder – die violetten Augen
Die geweihten Kreiden der ermländischen Friedhöfe
Und meine Großmutter Nacia
Schrieb wieder einmal an meine Tür
Die Segensbitte C+M+B+ der Sternsinger
Ich aber borgte mir von meiner Bank
Eine neue Flasche Wein und machte weiter
Tötete schon wieder mich und meine Frau
Tötete uns − die wir bloß fensterlose Blutsauger
Und Tagebücher sind
Ich hatte noch so viel Zeit
Jeder Wind – der mich zusammenschlug −
War abbezahlt
Ich stellte das Radio an
Griff zum Messer
Die Sterne leuchteten wie immer am Sabbat
Ich durfte sie nicht beleidigen
Meine katholische Seele
Hoffte vergeblich auf ein Himmelszeichen
Hoffte auf den Gesang deiner Augen
Die mir jedes Mal ein Lächeln entlockten

Irgendwo − in Indien oder auf Madagaskar −
Gedieh schon wieder ein neuer Diktator
Aber das war mir egal
Und die Regierungen unserer Erde baten plötzlich um Verständnis
Für ihre schmutzigen Hände und unsterblichen Soldaten −
Auf den australischen weißen Inseln und Riffen
Die man angeblich aus dem Orbit sehen kann
Wuchsen Hörner Fische und Blumen des Vergessens
Dass ich nicht einmal auswandern wollte
Und in jedem Papierkorb flüsterte eine Stimme
Dass es weiter gehen müsse und ich drehte mich auf die andere Seite
Und schlief wieder ein −
Gesegnet von Caspar
Und Melchior und Balthasar
Und Großmutter Nacia.

 

 

Das Kind auf den Wiesen

Verlacht. Das Kind auf den Wiesen.
Trinken wir den letzten Spruch.
Er mag trocken bleiben, aber das ist gesund auf der Zunge.
Bei mir wie ein Priester. Auf den Wiesen lagern meine Träume.
Doch es ist alles von Gleichzeitigkeit berauscht.
Die Füchse warten auf den Winter. Das Heidekraut
Hat keine Angst, sich zu vermehren.
Schlösser der Kreuzritter bevölkern die Wälder.
Man erwartet nicht, dass es jeden Moment kracht.
Dass ein Luftschiff abstürzt. Im Herbst sind die Leichen
Zu penetrant. Es riecht nicht nach Tod und Kleiderschränken.
Meine Kindheit. Bis zu den Knien wanderten wir im Dickicht.
Schwarze Gummistiefel der Segler, Fischer und Liebhaber
Trugen wir. Mein Vater und meine Mutter saßen
Auf grauen Holzbänken. Die Sonne leckte ihre Füße.
Da wurde ich geboren. Da war ein Kontinent.



 

zurück