Polen im Herzen - Sieben Tage nah der Seufzerbrücke
Von Klaus Hübner
Literaturblatt Baden-Württemberg März/April 2015

Wodka und Messer, Wälder und Seen? Wieder Masuren? Nein, Artur Beckers jüngstes Buch spielt in Venedig und ist eine leicht zu lesende Novelle, die auch als origineller Reiseführer dienen könnte. Der
36-jährige Andrzej Olsztyński, ein etwas verträumter Poet, ist zum ersten Mal in Italien. Und staunt. Über die Schönheit der Serenissima und über das Künstler- und Intellektuellenmilieu, in das er geraten ist. Seine Gastgeber möchten, dass er ihre Tochter vom Bahnhof abholt. Man kennt sich aus Warschau. Damals, vor zehn Jahren, muss Lidia 13 gewesen sein. Altersunterschied: 13 Jahre! Der Zug fährt ein und Lidia sagt noch auf dem Bahnsteig: „Wie bist du überhaupt nach Venedig gekommen? In Polen ist doch der Krieg ausgebrochen … Sie haben über das ganze Land das Kriegsrecht verhängt … Glaub’s mir!“ Man schreibt den 13. Dezember 1981. In ein paar Tagen wird Andrzejs Visum ungültig. „Die verfluchte 13!, dachte er noch, die Zahl verfolgt mich mein ganzes Leben schon, selbst in Venedig!“
Spätestens nach zweimal 13 Buchseiten wird deutlich, dass dies keine idyllische Novelle werden kann. Das Kriegsrecht und die Sorge um Angehörige und Freunde ist das eine. Das andere ist Lidia. Dass Andrzej keinesfalls als Asylant in Italien bleiben will, ist klar. Ein polnischer Dichter gehört nach Polen, ein Mann zu seiner Frau. Ein Sohn braucht seinen Vater. Aber kann er überhaupt zurück? Er bezweifelt nicht, dass jede körperliche Nähe zu Lidia eine Todsünde wäre. Aber geht es denn ohne? Ist Lidia nicht die einzige Rettung vor den Panzern des Generals? »Er befand sich in einem Ausnahmezustand, wie seine Heimat.« Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Es wird viel geliebt, gegessen und getrunken in dieser betörend-verstörenden Novelle. Die Figuren unterhalten sich auf Polnisch, Italienisch, Englisch und Deutsch, sprechen von bedeutenden Dichtern und Denkern oder widmen sich der Betrachtung von Tizians Bildern, und noch öfter sind sie auf den Kanälen, Brücken, Plätzen, Gassen und Friedhöfen der weltberühmten Stadt unterwegs. Ihr geliebtes Polen tragen sie im Herzen. Ob Venedig, diese „Republik der Liebe und Freiheit“, auch für Andrzej „ein wunderbares Gefängnis“ bleibt, „aus dem man nie wieder rauskommt“, wird nicht verraten.

 

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