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Ein (östlicher) Barbar im (westlichen) Garten.
Über das Aufeinanderprallen von Mentalitäten und Kulturen zwischen Ost und West
Von Magdalena Kardach
Ostragehege, Nr. 76, Juni 2015
Sieben Tage mit Lidia, Artur Beckers neueste Novelle, ist die intime Geschichte eines Ausnahmezustands, der sich auf drei Ebenen abspielt: in Politik, Liebe und Kunst.
Der politische Ausnahmezustand ist das am 13. Dezember 1981 in Polen ausgerufene Kriegsrecht. Genau zu diesem Zeitpunkt hält sich Andrzej, der 36-jährige polnische Dichter, in Venedig auf. Dorthin gefahren ist er auf Einladung seines alten Freundes Jacek, eines Komponisten, der Andrzejs Gedichtzyklus vertonen möchte. Andrzej konnte seine Reise nach Venedig erst nach vielen Jahren großer Anstrengungen um die Erlaubnis bzw. den Reisepass für eine Auslandsreise in den sogenannten „Westen“ verwirklichen. Allerdings ist es nicht Andrzej selbst, der darüber entscheidet, wie lange sein Aufenthalt in Venedig dauert, sondern das von der italienischen Botschaft erteilte Visum, welches die Visite unumstößlich auf zwei Wochen begrenzt. Nachdem die erste Woche von Andrzejs Aufenthalt in Venedig vergangen ist, kommt Lidia dorthin, die Tochter seines Freundes Jacek, die Andrzej zum letzten Mal als 13-jähriges Mädchen gesehen hat.
„Aber ich? Wer bin ich für dich? Kein Ausnahmezustand? Doch”, antwortet Andrzej auf eine der zahlreichen Fragen Lidias. Zwischen den beiden entflammt urplötzlich das Gefühl der Lust, der Leidenschaft, der unersättlichen Liebe, durchdrungen von der Unruhe einer gnadenlos verstreichenden Zeit: „Es ist Liebe im Kriegsrecht.“
Vor dem Hintergrund dieser beiden Handlungsstränge, des politischen und des Liebesmotivs, steht die faszinierende Schönheit Venedigs. Aber der Autor erlaubt uns nicht, dass wir uns ihr hingeben. Alles scheint vergänglich, eine bloße Laune des Augenblicks zu sein: die venezianischen Palazzi, der Ponte di Rialto, San Marco, die Frari-Kirche, Tizians Assunta ‒ Kolosse auf tönernen Füßen, denn jederzeit kann es zu einer Überschwemmung kommen. Vor dieser Illusion der Kunst warnt uns der Autor mit den von Czesław Miłosz stammenden Worten: „Kunst sei verräterisch, wie alle Schönheit der zerbrechlichen Materie“ und flicht in seine Beschreibungen der sinkenden Stadt Venedig diesen unvermeidlichen Hauch der Dekadenz ein, welcher sich durch die ganze Novelle zieht wie in den Bildern aus Luchino Viscontis Film Morte a Venezia, der 1971 nach Thomas Manns Der Tod in Venedig gedreht wurde. Deutlich spürbar wird diese Spannung vor allen Dingen zwischen der schönen, ockerfarbenen, raffinierten Renaissancearchitektur und der Hässlichkeit, die bei Ebbe bisweilen bloßgelegt wird. Die Dekadenz ist aber auch durch die Insellage Venedigs bedingt, da in dieser „Republik der Freiheit“ Emigranten und Künstler wie Jacek Maj und Toni oder politisch Verfolgte wie Gaston Salvatore, Eskapisten und von der „an Land“ herrschenden Ordnung dieser Welt Enttäuschte, Asyl gefunden haben.
In Artur Beckers Novelle ist Venedig ein nicht greifbarer imaginärer Ort ‒ ein Zwischenort, ein Ort in der Schwebe zwischen dem Festland, wo „unter den Lebenden der permanente Ausnahmezustand herrschte“, und dem Totenreich, getrennt durch den Canal Grande, dem der Autor eine neue semantische Bedeutung zuweist ‒ die des steinernen Flusses: „Dieser steinerne Fluss, der an manchen Stellen so breit war wie ein richtiger Strom, sorgte in Venedig für das trügerische Gefühl, dass man sich um den Tod keine Gedanken mehr machen müsste. Andrzej dachte zumindest beim Anblick dieses Stromes, er habe bei seiner Ankunft in der Lagune die letzte Grenze überschritten und werde das Totenreich nie mehr verlassen.“
Kunst versinnbildlicht sich in dieser Novelle nicht allein durch die Architektur, sondern auch durch das Motiv der – von Jacek komponierten – Musik, die einen roten Faden bildet, vor allem jedoch durch die Literatur. So ist es gerade Andrzej, in dem sich, als polnischem Dichter und Emigranten, mehrere Ebenen treffen, denen Artur Becker in seiner Novelle eine erzählerische Linie verleiht. Hier kehrt das in der Prosa und Lyrik dieses Schriftstellers oft angesprochene Problem des Verlustes der Muttersprache wieder zurück. So wie viele Interviews mit Artur Becker zeigen auch seine Texte, dass er unaufhörlich versucht, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Als polnischer Dichter und Emigrant in Deutschland entschloss er sich vor 25 Jahren, ausschließlich auf Deutsch zu schreiben. In einem 2012 veröffentlichten Essay, das in dem deutsch-polnischen Magazin Dialog erschien, bekannte er zwar: „Das Selbstbewusstsein, dass ich in einer fremden Sprache genau das sagen kann, was mir mein intimes, in Polen geborenes Herz diktiert, ist ein wunderbares Geschenk.“ Und dennoch lässt er in seiner Novelle Lidia zu Andrzej sagen: „Das sind nicht deine Worte. Sage es in deiner Sprache”. Andrzej glaubt, dies nicht mehr zu können, weil das kommunistische Regime, das seit Jahren sein Land knebele, ihm seine wirkliche Stimme genommen habe. Dies nimmt natürlich Bezug auf die Situation, in der sich Andrzej zu Beginn der 1980er-Jahre in Polen befand: Zensur, Veröffentlichungsverbote, Überwachung des Privatlebens. Es gibt schließlich für einen Schriftsteller keine schmerzlichere Situation als die, selbst verfasste Texte nicht veröffentlichen zu dürfen. Aber in Venedig zu bleiben, welches in eben dieser Situation einen beispielhaften Ort auf der Landkarte Europas darstellt ‒ keinen zufälligen jedoch, denn er bringt in der Novelle das Gefühl eines vorläufigen Zustandes zum Ausdruck ‒, ist weder für Andrzej noch für andere polnische Schriftsteller damaliger Zeit wie etwa Zbigniew Herbert oder Adam Zagajewski eine wirkliche Alternative. Warum? Andrzej ahnt seine Zukunft voraus, seine Rolle als ein östlicher Barbar im westlichen Garten. Er gewänne zwar die Ästhetik, verlöre aber die wichtigsten Aspekte, die ihn ausmachen, seine elementrasten Ursprünge also, wozu unter anderem auch seine Sprache zählt.
Doch lassen wir uns durch den Eindruck nicht täuschen, dass sich Artur Becker ein weiteres Mal lediglich mit dem Problem des Verlustes der Muttersprache bei einem Schriftsteller befasst, der Emigrant geworden ist. Es eröffnet sich hier ein sehr viel tieferer hermeneutischer Sinn. Der Autor zeigt nämlich eine andere Dimension des polnischen Emigranten, eines Exilanten, der mit dem Etikett des polnischen Auswanderers behaftet ist, welcher in den Ländern Westeuropas gewöhnlich mit dem einfachen Gastarbeiter assoziiert wurde und wird, der allein deswegen in den Westen kommt, um seinen materiellen Status zu verbessern.
Gewissermaßen als Fortsetzung wird dann ein weiterer thematischer Komplex berührt, den ich als den zweifellos wichtigsten, als Achse bezeichnen würde, um die herum sich die gesamte Novelle dreht, und dies auf sämtlichen Ebenen. Und es geht hier nicht im Mindesten um Reflexionen über polnisch-masurisch-deutsch-europäische Beziehungen in einem weiteren Aufzug, woran Artur Becker seine Leser mittlerweile gewöhnt hat. Vielmehr bewegt sich der Autor dieses Mal einen Schritt weiter. Es geht um das Aufeinanderprallen der Kultur des Ostens und der Kultur des Westens, das sich in dem Verhältnis venezianische Intellektuelle vs. Andrzej, Lidia vs. Andrzej und auch Jacek, dem Freund, vs. Andrzej manifestiert. „Den Ausnahmezustand, in dem wir uns befinden, wird hier keiner begreifen. Ich bin für sie ein Papagei aus dem Dschungel”, sagt Andrzej zu Lidia, als sie ihn bittet, während eines großen Empfangs, bei dem sich die intellektuelle Creme de la Creme Venedigs zusammenfindet, über die politische Situation in Polen, über das Kriegsrecht zu berichten. Und in diesem Kontext ist nicht unbedingt Andrzejs Gedicht Kopernikustraße, aus dessen letztem Teil er vorliest, wichtig, und auch nicht die kurze Rede, mit der sich Andrzej von Venedig verabschiedet, sondern die spontan aus dem Gedächtnis zitierten ersten Zeilen aus Juliusz Słowackis Gedicht Agamemnons Grab, das seinerzeit, als es entstand, vielsagend die politische Situation Polens während der Teilungen zu beschreiben wusste und nun erneut, in der Erzählzeit der Novelle, zu beschreiben weiß: „Polen! Dich will man doch nur mit Flitter täuschen! / Der Völker Pfau warst Du einmal und deren Papagei; / Jetzt aber bist Du bloß noch fremder Mächte Magd.“
Das Aufeinanderprallen von Ost und West ist in dieser Novelle in nahezu jeder Szene augenfällig, wobei es hier vor allem um Unterschiede im Verständnis von grundlegenden Werten, dem Verhältnis zu materiellen Gütern, zu persönlicher Freiheit oder moralischer Verantwortlichkeitin ihrer umfassenden Bedeutung, geht. Andrzej kommt nicht deswegen nach Venedig, um den Westen zu „konsumieren”: „Du hübsches Mädchen […] möchtest reich werden, reich, dachte er. Ja, vielleicht ist das das Einzige, was man hier werden soll: in dieser einst reichsten Stadt Europas. […] Ich will bloß frei sein, und das ist womöglich mein Fehler, so wie es dein Fehler ist, Lidia, dass du reich werden willst.“
Und trotz all dieser grundlegenden Diskrepanzen gestattet Artur Becker seinem Protagonisten Andrzej, sich als Venezianer zu fühlen, indem er ihn – den in seinem Heimatstaat Entmündigten – in der Lagunenstadt seine Freiheit genießen und verteidigen lässt, „denn Freiheit war das einzige greifbare Elementarteilchen, das hier in Venedig existierte, in dieser sinkenden Stadt.“
Letztlich ist diese Novelle auch eine wunderschöne Erzählung über die Liebe, ein weiterer Erklärungsversuch, auf die ewige Frage eine Antwort zu geben, was nun Liebe sei. Und Liebe ist Lust, Liebe ist Leidenschaft, Liebe ist Sehnsucht, Liebe ist selbst dann, wenn sie vergeht. Nicht alles jedoch in diesem Buch ist so eindeutig und vollständig ausgesprochen, wie es die erotische Narration der Novelle auf den ersten Blick zu versprechen scheint. Auch hier spielt der Autor mit dem Leser. Denn ebenso den sprachlich-semantischen Raum des Eros lässt Artur Becker den Leser nicht bis zum Ende verstehen, ohne intertextuelle Bezüge herstellen zu müssen, wie etwa zu den Zeilen in Czesław Miłoszʼ Gedicht Annalena: „Ich liebte deine samtweiche Yoni, die langen Ausflüge im Delta Deiner Beine (…)“
„Man kann sich seine Wünsche oder Träume nicht erfüllen, das ist eine Illusion, man erfüllt bloß seine Bestimmung und denkt dabei, man habe einen freien Willen und eine Vorstellung von den Dingen“, lässt der Autor seinen Haupthelden Andrzej denken.Obwohl in Liebe versunken, ebenso in der Sehnsucht nach der Freiheit des goldenen Westens, spüren wir dennoch subkutan Andrzejs Entscheidung – von Anfang an. Es geschieht genau das, was geschehen soll und geschehen sollte, und das ungeachtet der Tatsache, dass wir lediglich denken, dass wir handeln und Entscheidungen treffen.
Was also stellt dieses Buch dar? Vielleicht eine Art Reisebeschreibung wie bei Zbigniew Herbert in Ein Barbar in einem Garten? Bei Artur Becker jedenfalls ist dies die Reise eines östlichen Barbaren, eine Reise durch die Architektur, durch Landschaften, durch die Farben des westlichen europäischen Gartens, des Gartens der großen Versuchung. Bei der Lektüre dieser venezianischen Aufzeichnungen durchleben wir selbst eine ästhetische Reise, die eigentlich ein jeder von uns unternehmen sollte, um einmal Auge in Auge sich selbst gegenüber zu stehen, Auge in Auge mit dem eigenen Verständnis von Kunst, dem Schönen also, ergo: mit all dem, was unsere Sensibilität ausmacht.
Wir sollten uns jedoch nicht von einer Sache irreführen lassen. Es geht mir hier nämlich um eine kleine, geschlossene, möglicherweise immer mehr in Vergessenheit geratende Form in der Literatur – um die Novelle. Viel verlieren diejenigen, die sich beim Lesen dieser Novelle nur auf einen mühelosen romantischen Spaziergang begeben, in den schmalen venezianischen Gassen, den Kanälen entlang, und darauf verzichten, die nächsten Ligaturen dieses Buches mit Hilfe der kulturellen Codes zu entdecken, deren sich Artur Becker bedient. Denn Sieben Tage mit Lidia ist die Geschichte der sehr zerbrechlichen Schönheit des versinkenden Venedigs, es ist die Geschichte über die Unmöglichkeit der Liebe und die Grenzen der Freiheit – der bürgerlichen wie auch der persönlichen. Ein Stück Literatur, in dem der Autor mit der leichten Hand und feinen Feder seines Erzählstils Grundlegendes berührt.
Artur Becker: "Sieben Tage mit Lidia", weissbooks.w Verlag, Frankfurt am Main 2014. 197 Seiten, 17,90 Euro.
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