Artur Becker
Von der Kraft der Widersprüche
Chamisso-Poetikdozentur, Dresden 2020
Hrsg. Holk Freytag

© Thelem Universitätsverlag

I
Identität der Kosmopolen und die Rückkehr der Nationalismen
(Jan Józef Lipski, Gustaw Herling-Grudziński, Tony Judt und Theodor W. Adorno)

Für mich ist Adelbert von Chamisso auch ein Kosmopole, aber der Weg in die Republik, in der die Kosmopolen und die Chamissos dieser Welt leben, ist lang und beschwerlich. Ich will diesen Weg Ihnen ein wenig schildern und erleichtern …

Ich bin an zwei Orten aufgewachsen: im masurischen Bartoszyce an der Grenze zu Warmia (Ermland), einem einst ostpreußischen Städtchen an der Alle namens Bartenstein, und im Erholungszentrum Morena am Dadajsee, einem Moränensee, der im Ermland liegt. Ich kenne eigentlich auch nur zwei Jahreszeiten wirklich gut: den Winter und den Sommer.  Die Winter gehörten gänzlich unserem sozialistisch-katholischen Provinzstädtchen, in dem damals in den Sechzigern und Siebzigern des 20. Jahrhunderts Ermländer, Masuren, Deutsche, Polen, Ukrainer, Weißrussen und Juden sowie Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemals polnischen Grenzgebieten im Osten, aus Litauen und der Westukraine, lebten, und die Sommer regierten am Dadajsee, an dem ich zwischen 1970 und 1982 zusammen mit meinen Eltern die zweimonatigen Sommerferien verbrachte.
Bartoszyce liegt in meiner Erinnerung stets  unter der ewigen Schneedecke Ostpreußens begraben, in diesem kalten baltisch-sibirischen Klima, auf das in meiner Kindheit noch Verlass war, während die ermländisch-masurischen Seen symbolisch immer für die Zeit der heißen Sommerferien und des sorglosen Lebens im Drei-Tausend-Seen-Paradies stehen werden. Denn dort in den Wäldern bauten wir Kinder Holzhütten,  an den Seeufern spielten wir Badminton und im Bootshafen unseres Erholungszentrums Morena bewunderten wir die Segler mit ihren Jachten und den weißen Segeln, die vor dem In-See-stechen im Wind flatterten und höllischen Lärm verursachten. Dort im Erholungszentrum schien die ewige Juli- und Augustsonne des Friedens, wobei uns die unzähligen Trinkgelage unserer Eltern am Lagerfeuer, an dem meine Mutter zusammen mit ihrer jüngeren Schwester, die heute in Calgary lebt, polnische Schlager gesungen hatte, so vorkamen, als würden wir alle fast jeden Tag an einem nicht enden wollenden Sommerfest teilnehmen. Es war heiß, schwül, und die Feldgrillen ahmten die Zikaden Italiens und Griechenlands nach – ich war glücklich und vereint mit der Natur und meiner Muttersprache, deren Einmaligkeit und Idiosynkrasie ich mir gar nicht bewusst war. Und regnete es, dann gewaltig aus allen Eimern und Zubern des ermländischen Himmels, manchmal sogar zwei Wochen lang.  
Fremdsprachen wurden vor allem in unserem Bartensteiner Kino Muza gesprochen, da in Polen Synchronisation bis heute eine Seltenheit ist, und wenn mir jemand damals, 1978, nach der Vorführung des in Manhattan spielenden und die CIA-Machenschaften im Ölgeschäft entblößenden Politikthrillers Die drei Tage des Condor von Sydney Pollack erzählt hätte, ich würde im Jahre 2020 im Frankfurter Hotel Lindley wohnen, aus dem Fenster meines Zimmers auf das Gebäude der Europäischen Zentralbank blicken oder mit meinem Fahrrad entlang des Mainufers fahren, um in der Metzlerstraße auf der Terrasse einer Villa zusammen mit einer Freundin ein Glas Rosé zu trinken, die verheißungsvoll leuchtenden Wolkenkratzer anzustarren und über Chinas wirtschaftliche Expansion in Afrika zu diskutieren, hätte ich dem seltsamen Propheten sicherlich keinen Glauben geschenkt, sondern ich hätte ihn zum Teufel gejagt.
Und Fremdsprachen wurden auch im Morena gesprochen: vor allem Deutsch. Heute denke ich, dass die deutsch-deutsche Vereinigung in unserem Erholungszentrum in Polen ihren Anfang genommen hatte, bereits in den Siebzigerjahren, als es zwischen der durch die Kommunisten als revisionistisch verschrienen BRD und dem kommunistischen Polen zur Annäherung kam: nach dem Kniefall von Willy Brandt in Warschau und den Friedensverträgen von 1970.
Es war für uns Polen  ein köstliches Bild, das uns da plötzlich Sommer für Sommer dargeboten wurde – sozusagen ein deutsch-deutscher Fernsehabend –, wenn die sogenannten Ossis und Wessis in unser Erholungszentrum kamen, ihre Autos vor den Bungalows parkten und anfingen, ihre Campingausrüstung auszupacken. Sie standen vor ihren Trabis oder  Audis und leerten die Kombis und Kofferräume, die voller Schätze waren: Es kam uns vor, als wären die Deutschen nicht zu uns gekommen, um sich zu erholen und das Nachbarland besser kennenzulernen, sondern um eine umfangreiche Expedition in die masurische Wildnis zu machen. Unsere Eltern saßen in den Anglersesseln, schlürften warmes Flaschenbier oder Limonade und beobachteten das Spektakel. Und wir Kinder liefen um die vollbepackten Autos herum und staunten darüber, wie perfekt die Deutschen ausgestattet und organisiert waren. Tragbare Radios und Fernseher, Kettensägen, Zelte, Gaskocher, Konservendosen, Schwimmflossen, Angeln der Firma Shakespeare, Taucherbrillen, Campinggrille, Taschenlampen, auf dem Autodach Kajaks, Wanderschuhe, für die Kinder aufblasbare Delfine, dann noch die Außenborder für ein Schlauchboot und jede Menge Werkzeug, einfach nichts durfte fehlen.
Beim Auspacken ihrer Gerätschaften waren sie keine geteilte Nation mehr, sondern einfach Deutsche, und als Kind fiel es mir schwer zu begreifen, warum sie in zwei eigenständigen Staaten lebten. Der Zweite Weltkrieg war zu der Zeit, als die Deutschen anfingen, regelmäßig ihr westslawisches Nachbarland im Osten zu besuchen, in vielen polnischen Familien eigentlich immer noch nicht zu Ende gegangen, saß doch die Erinnerung an die Gräuel und das Leid der Okkupation in den Menschen viel zu tief, und nicht selten passierte es, dass den Besuchern aus der BRD wie auch der DDR ein alkoholberauschtes "Heil Hitler!" entgegengeschrien wurde, wofür wir uns schämten. Diese betrunkenen Störenfriede waren Kinder der Opfer und schlossen sich in ihren Bungalows oder Zelten auf dem Campingplatz ein, um Bier und Wodka zu trinken und Marihuana zu rauchen, wobei diese Droge in der Volksrepublik selbst Ende der Achtzigerjahre selten konsumiert wurde. Jedenfalls bemühten sich die meisten polnischen Zeitzeugen und Opfer der Besatzung durch die Nazis um einen friedlichen Umgang mit den deutschen Besuchern, so auch meine Eltern, die nicht nur für mich prominente Diplomaten und Brückenbauer waren. Mein Vater, der Leiter des Erholungszentrums, konnte ein bisschen Deutsch, und meine Mutter, von der ich vermutlich ihre Neugierde und die Sehnsucht nach Begegnungen mit fremden Kulturen, Sprachen und Ländern geerbt habe, besaß keinerlei Berührungsängste, und die langen, vertrunkenen, "versungenen" und "verdiskutierten" Abende und Nächte sind meine kostbarste Erinnerung: West- und Ostdeutsche saßen an einem Tisch zusammen und bewunderten uns Polen, weil wir in Danzig einen charismatischen Streikführer mit einer ungezügelten Fantasie und Zunge hatten, der nach seinem Friedensnobelpreis eine weltweite Bekanntheit erlangen sollte wie Nelson Mandela.
Gewiss, unsere Cousins und Verwandten aus Rostock, ist doch mein Vater ein Kind einer ostpreußischen Frau, die sich 1945 zum Polentum bekannt und einen Polen geheiratet hatte, machten Anfang der Achtzigerjahre während ihrer Besuche in Ermland und Masuren keine gute Figur: Ein landesweiter Streik in einem sozialistischen Staat war ihnen nicht geheuer, aber auch die westdeutschen Touristen, vor allem die Linken, schüttelten ihre Köpfe, da sie nicht begriffen, wie man Gewerkschaftler und gleichzeitig ein glühender katholischer Anbeter der Heiligen Mutter Gottes sein konnte.     
Und trotz dieser religiösen, bei den westlichen Linken auf Widersprüche stoßenden Stärke der polnischen Arbeiterbewegung in Zeiten der damals nicht aufhören wollenden Streiks, was letztendlich in der Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981 gemündet hatte, ist die Einheit der Solidarność ein Mythos. Der gemeinsame Kampf gegen den Kommunismus konnte zwar rechtskonservative, linke, sozialdemokratische, liberale und selbst nationalistische oder gar trotzkistische Kräfte unter einen Hut bekommen und zähmen, aber nur bis 1989.
Man muss sich nämlich vorstellen, dass die Solidarność-Bewegung nicht nur der spontane Ausdruck der Sehnsucht nach ziviler, offener Gesellschaft im Sinne Karl Poppers war, sondern auch ein Produkt der nationalen Identität Polens, des unaufhörlichen Strebens nach Unabhängigkeit, und dessen Wurzeln liegen auch in der polnischen Romantik, im polnischen Messianismus und damit auch im Nationalismus. Solidarność war auch eine Art moderner Messianismus und moderne Revolution, jedoch im Sinne der Bewahrung beziehungsweise Wiederauferweckung der nationalen Identität. Das heißt, dass Solidarność sich vor allem durch komplizierte Widersprüche in ihrer Freiheitsideologie auszeichnet.
Außerdem wurde ich schon als Kind von der katholischen wie auch der sozialistischen Ideologie philosophisch und politisch wachgerüttelt, sodass mir die zahlreichen Widersprüche, die nicht nur meine masurische Provinz beherrschten, sondern auch die Gesellschaft der Großstädte, schnell bewusst wurden. Ich will in dem Zusammenhang nicht bloß von der Hypokrisie der korrupten Parteisekretäre und des korrupten und demoralisierten Klerus sprechen – solche Verhaltensweisen gab es in jedem sozialistischen Staat –, aber ich hatte schon früh den Eindruck gewonnen, dass unsere Welt in Polen einer Tragikomödie glich, lebten wir doch in der Desillusionierung über die kommunistische Wirklichkeit, die nichts mit der versprochenen Utopie des gerechten und glücklichen Paradieses auf Erden zu tun hatte – einerseits; andererseits versprach man uns in der Kirche das ewige Leben im unsterblichen Reich Jesu Christi, doch die Priester und die Katechetinnen wirkten auf uns apathisch und jagten uns eher Angst ein, da ihr Gott gar nicht so barmherzig zu sein schien, wie sie ihn darstellten. Er litt für uns am Kreuz, seine Qualen und Tränen machten uns Kinder traurig und raubten uns den Lebensmut. Wir hatten andauernd ein schlechtes Gewissen, und die Predigten am Sonntag reinigten unsere Herzen nicht, damit wir jungfräulich bei der Kommunion Corpus Christi, die Oblate, herunterschlucken konnten, sondern vergifteten sie manichäisch, da uns Kindern kaum vermittelt werden konnte, warum wir seinen Leib essen mussten, warum der Priester sein Blut trinken musste. Die Eucharistie erschloss sich uns nicht.
Mein Vater konnte schon 1983 ausreisen, meine Mutter mit meinem jüngeren Bruder 1984, ich blieb in Bartoszyce allein, und ich war im Grunde genommen, was meine Begegnung mit der folkloristischen Religiosität anbetraf, heilfroh, als ich 1985 sechzehnjährig endlich den Reisepass bekam und vor diesem leidenden, mir ein schlechtes Gewissen einredenden Christus aus der Bartensteiner Kirche fliehen durfte, obgleich ich mir im Westen keine Rettung versprach, keine richtige Bleibe, denn eigentlich war ich nicht nur auf den Heiland und die Kommunisten, auf Jesus und Marx, wütend, sondern auf die Welt der Erwachsenen und damit auch auf meine Eltern und darauf, dass sie mich, den angehenden polnischen Dichter, der 1984 in der Gazeta Olsztyńska als Lyriker debütierte, in die BRD entführt hatten.
Zur Emigration wurde ich gezwungen, war ich doch noch nicht volljährig, sodass ich meinen Eltern auf ihrer Flucht aus dem kommunistischen Ostblock hatte folgen müssen. Im Zug, der berühmten Berolina, nach Hannover freute ich mich jedoch darüber, dass ich meine Eltern und meinen Bruder nach der langen Zeit der Trennung endlich sehen und dass ich dem zum Scheitern verurteilten und durch den Homo sovieticus vulgarisierten Sozialismus den Rücken kehren konnte. Ich freute mich und zugleich bekam ich Angst, da ich mich schon erwachsen fühlte und weder meinen Eltern noch dem westdeutschen Bildungssystem gehorchen wollte – das Naturell des Polen ist rebellisch, was ihm allerdings oft zum Verhängnis wird, nur: Ich war in meiner Pubertät ein Nervenbündel, da nichts sicher zu sein schien, weder meine Zukunft noch die der Welt und Europas; voller Widersprüche in meinem Intellekt und Herzen stieg ich in Hannover aus der Berolina aus, um ein neues Leben zu beginnen. Aber ich war ein Mischwesen, eine Mischung aus Punker und Hippie, Trotzkisten und Anarchisten, Dichter und Erzähler.
Außerdem kam ich in dieses damals geteilte Land, in dem ich heute einer der 21 Millionen Bundesbürger mit dem sogenannten Migrationshintergrund bin, voller Erinnerungen und Zukunftspläne, die jedem Jugendlichen das Adrenalin in den Kopf steigen lassen, aber in Wahrheit wurde ich sofort stumm: Ich musste erst Deutsch lernen, denn 1985 lasen wir am Verdener Gymnasium Die Deutschstunde und Sansibar oder der letzte Grund und ich verstand nur Bahnhof, ohne zu wissen, dass ich in Verden an der Aller von 2000 bis 2020 in der Bahnhofstraße wohnen und fünfzehn Bücher schreiben würde.
Mein Deutsch steckte damals jedenfalls noch in den Kinderschuhen und ich konnte lediglich literarisch denken – und psychologisch –, jedoch nicht in der deutschen Sprache, sondern in der polnischen, weil ich ein stummer masurischer Fisch war: Für ein halbes Jahr verstummte ich und lernte den Duden auswendig.
Aber 2003 lernte ich vor allem Siegfried Lenz kennen, ich Schriftsteller, Pole, Kosmopole, zumindest ein angehender, und ich stellte fest, dass Siegfried Lenz mit mir so sprach, als wäre ich tatsächlich sein ostpreußischer Landsmann. Er benutzte sogar einmal das Wort, den konkreten Begriff: Landsmann, doch ich war dieser Zeitgenosse nicht, weil ich sofort, in jedem Moment – ich brauchte nur das Maul aufzumachen – auf meine polnische Herkunft reduziert werden konnte, und ich staunte über die Frage, die mir Siegfried Lenz gestellt hatte: »Und sprechen Sie noch Polnisch?« Ich war wieder stumm. Zumindest für einen Augenblick, denn er sagte als Nächstes: »Ja, ja, das waren furchtbare Zeiten, aber es ist schon so lange her, ach Gott, Masuren!« Ich habe damals sofort verstanden, dass Lenz ebenso nicht nur auf seine Herkunft reduziert werden wollte – so wie ich in meinen Anfangsjahren in der BRD nicht mehr auf meine polnisch-ostpreußische Herkunft reduziert werden wollte: auf meinen polnischen Akzent, das rollende R. Wir haben doch in unserer Volksrepublik Julio Cortázar und Thomas Bernhard gelesen, Pat Metheny und King Crimson gehört, und wir lebten im Mitteleuropa Milan Kunderas, und Polen war eigentlich das liberalste Land in diesem stalinistischen Jalta-Komplex – neben Tschechien und Ungarn. Ich musste nur Deutsch lernen, den Zungenbrecher für einen Slawen, und ich musste begreifen, was eigentlich zwischen 1933 und 1945 in diesem Land passiert war, wie es zu diesem totalen moralischen Versagen einer ganzen Nation in einem der wichtigsten – kulturgeschichtlich betrachtet – Staaten Europas kommen konnte.      
Aber nach fünfunddreißig Jahren des Schreibens und Publizierens in meinem Deutschland  bin ich wieder ein Heimatloser geworden – ein Hotelmensch, der in seinem Hotelroman Der unsterbliche Mr. Lindley wohnt in der Fiktion also, aber auch in der Realität, in unserer digital-virtuell-mobilen Wirklichkeit der globalen Diversitäten.
Ich sehe in meiner erneuten Heimatlosigkeit, die am Tag der Liquidierung meiner elterlichen Wohnung in Bartoszyce 1985 den Anfang nahm, eine natürliche Konsequenz, zumindest für mein Schicksal und für mein Selbstverständnis, das sich darin ausdrückt, dass ich Kosmopole bin, der in der Freiheitsrepublik Kosmopolen wohnt, dem "Dritten Raum des Aussprechens", wie es Homi K. Bhabha postuliert hat, der die Hybridität im Werk der Migrationsautoren zum Ausdruck bringen soll. Meine Republik Kosmopolen liegt in der Tat zwischen den Welten – nicht nur zwischen Deutschland und Polen. Ich habe sie in meinem Essayband von 2016 mit dem gleichnamigen Titel so beschrieben: als einen Ort, an dem unsere Identitäten nicht verlorengingen, obwohl wir Migranten unsere Geburtsorte endgültig verlassen hätten, denn wir lernten, sie zu bewahren und auch für die Einheimischen attraktiv und nützlich zu machen. Ich habe auch postuliert, dass diese Freiheitsrepublik Kosmopolen ein hybrider, geistiger Raum, ein Pendant zu dem öden Land Ulro sei, in der poetischen Symbolik von William Blake die moderne Hölle auf Erden, in der Technokratie, der kalte Verstand, das spöttische Gelächter und das Gefühl, unsere endliche Existenz sei absurd, vorherrschen würden.

***

Und ich glaube, ich war damals auf dem Rückweg von Johannesburg

Ich weiß dass Du wartest und dass ich diese Schublade nicht hätte öffnen sollen
Die vergilbten Umschläge darin sind so schön wie das Morgengrauen – versenkt
In den Hosentaschen der Sonne – niemand geht niemand bleibt – nur Aurora und Gebete

Aber als ich mich heute wieder schlafen gelegt und mir nur mein Feldbett
Zur Verfügung gestanden hatte denn so lebe ich seit Jahren im Westen
Saß ich wieder am Flughafen

Natürlich kümmerte niemanden meine Himmelfahrt aus dem Erdgeschoss
Und vielleicht flog ich dann von Johannesburg zurück oder vielleicht von Amsterdam
Schöne Geldautomaten sprachen mit Stewardessen und Koffern Zeit und Raum

Du weißt schon – in unserer Sprache der Liebesgeschichten – und die Reisepässe
Verschwanden ohne Zahlen und Vergangenheit – schließlich ist das alles Mythologie –
Und man sprang ihnen an die Gurgel – dort wo der ewige Winter der Mathematik existiert

Und dann als ich mich in ein Café setzte vielleicht in Amsterdam 
Und ein Bier bestellte und noch ein paar Krümel dieses spöttischen Liedes über die Rückkehr
Fühlte mein Eterna-Hemd aus Passau nicht einmal den Schweiß

Aber ich dachte trotzdem an unsere ungeborenen und unerfüllten Abendessen
Und Streitereien nach den neuesten Nachrichten aus London – und dass ich meine Zeit
Am Flughafen vergeude weil selbst Thomas von Aquin nicht mehr mundet

Wie ein einziges Glas guten Wodkas und damit die totale Idiotie der Langeweile – sie
Erwärmte mein Herz und vielleicht nicht hundert aber mit Sicherheit tausend getrunkene
Kaffees verschwanden in meinem Blut obwohl ich nicht ausreichend für sie bezahlt hatte

Entschuldigung – an diesem namenlosen Flughafen sah ich keine nackten Brüste der Kirschen
Und Jugend – alles geschah nebenan – niemand erinnerte sich an uns
Niemand wusste dass ich gleich abfliegen und nicht mehr zurückkehren würde

Und ich erinnerte mich auch an das Gesicht der Kassiererin ich kaufte eine Flasche Whisky
Und ihr könnt mich töten aber ich habe mein halbes Leben mit dieser Kassiererin verbracht
Und sie behielt in ihrem Gedächtnis ja nicht einmal meinen Namen auf der Kreditkarte
Und sie wusste nichts gar nichts über einen gewissen Thomas von Aquin
Der in Wahrheit nicht nur Schulbänke erfunden hat
Sondern auch Schreibtische für Staatsanwälte und Präsidenten – sie alle kennen die Wahrheit

Aber wie Du weißt – er ist ihm damals entkommen – dieser Sohn Gottes vom Kreuz
Auf Golgatha und der Scholastiker hatte wirklich geglaubt dass die Logos-Idee
Seine Existenz beweisen würde – auf dem Papier und in der Kirche

Das ist wahr – nur dass Thomas sich uns nicht ausdenken konnte
Deine herabfallenden Kleider am Strand zwischen den erhitzten Handtüchern
Und die Segel des ins Haus des Herbstes eilenden Sommers

Er wusste nichts darüber wie sich Ameisen und unsere Lippen lieben
Wenn es zum letzten Mal Nacht wird vor der Dusche
Und er wusste nichts am Rande dieser Begegnungen mit Wasser und Seife

Denn dann – wenn ich darüber nachdenke – sitze ich wieder am Flughafen – es ist
Wahrscheinlich Amsterdam und ich kann sehen wie weit der Weg zu meinem iPhone ist 
Und dass ich Dich nicht anrufen und aus Contra Gentiles zitieren kann

Gegen uns ungläubige Heiden der Liebe und der Pornografie
Gegen uns verwelkende Kaffeelöffel und wenn diese Tasse verschwunden ist
Wird es nur eine Sorge geben ob unsere Lippen rein gewesen sind

Jetzt bin ich wieder dort und weiß was ich auf meinem Bankkonto habe und wie viel mein
Leben kostet – ich kaufe Dir das Nichts und in der nächsten Boutique noch einmal meinen
Traum – intelligente Bänder des Weltalls wie Supernovae oder einfach eine Flasche Martini

Ich werde Dir mein gestohlenes Leben aus der Volksrepublik Polen noch kaufen
Und aus Westdeutschland und zum Schluss Tarotkarten und noch irgendetwas im Supermarkt
Aber ohne meine Hausschuhe der Weisheit schlafe ich in all dem nicht mehr ein

Dieser Thomas solle nur einfach endlich aufhören zu senden zu beweisen und zu messen
Wie unterhaltsam Europa in den Händen der Verbraucher-Heiden sein könne
Wie kurz ihr scholastisches Leben sei – das ertrage ich nicht mehr bevor ich abfliege

Was Du am besten weißt – es reicht bloß mich einmal zu kneifen
Und dann werde ich allem zustimmen – niemand von uns möchte eine offene Konservendose
Sein – in der Gaskammer

Und jetzt wenn ich hier so rumsitze und mich ablenke denn das ist wahrscheinlich Buenos
Aires und bevor ich gleich einen Drink auf Eis bestelle – schläfst Du längst auf unserem
Kontinent – Europa das ist eine Mausefalle – Deutschland sitzt in Frankreich
Spanien in Deutschland und Deine Augen vermissen Lemberg – und die Niederlande
Laufen Sturm und in Südafrika sterben die Nächte und jemand flüstert uns
Andauernd zu aber damals habe es wenigstens Ordnung gegeben

Es ist schon lange her dass ich in meinem Haus so ein reines Flüstern zu Gast gehabt hatte
Wie bei ihnen den Gekleideten in weißes Leder und in weiße Tischdecken auf Tischen
In Frankfurt – weißt Du – ich bin noch nie in ein solches Europa zurückgeflogen

Bitte weck mich nicht mehr auf aber durch die Glaswände der Luft – ich glaube in Amsterdam Schiphol begann Bruegel mich zu überzeugen – habe ich endlich gesehen wie
Schwierig es ist Krähenflügel des Winters ohne Gedächtnis zu nähen

Thomas.

Verden-Bremen-Johannesburg, September 2018 - September 2019

Aus dem Polnischen vom Autor.

Aus: Za Słupami Heraklesa (Hinter den Säulen des Herakles), neue Gedichte auf Polnisch, 2015 - 2020, ca. 100 Seiten, geplant bei der Parasitenpresse in Köln, Herbst 2022.

 

   

 

zurück