»Kosmopolen. Auf der Suche
nach einem europäischen Zuhause«
Essays
(© weissbooks.w 2016)

*

Im Zug durch Deutschland
(Auszug)

 

»Nie kochaj żadnego kraju: kraje łatwo giną.« ‒
»Liebe kein einziges Land: Länder gehen leicht unter.«
Czesław Miłosz

I

m Sommer 1951 machte sich der polnische Dichter Czesław Miłosz (1911 ‒ 2004) von Paris aus auf den Weg nach La Combe-de-Lancey in den Alpen, einem Kaff bei Grenoble, um den dort lebenden Stanisław Vincenz (1888 ‒ 1971) zu besuchen, einen anderen großen Exilanten, vor allem aber einen alten weisen Mann. Miłosz hatte nämlich zu Anfang desselben Jahres bei der polnischen Botschaft in Paris das Handtuch geworfen und wohnte nun im Verlagshaus der Exilzeitschrift Kultura, das 1947 von Rom in den Pariser Vorort Maisons-Laffitte umgezogen war. Man könnte sagen: Der Dichter war ein frisch gekürter Kosmopolit und ‒ vor allem aus der Sicht der kommunistischen Machthaber ‒ ein Verräter.
Sein Verleger, der Publizist Jerzy Giedroyc (1906 ‒ 2000), kam auf die Idee, den Vierzigjährigen zu Vincenz zu schicken, da Miłosz nirgendwo ein warmes Plätzchen finden konnte: Er glich einem Nervenbündel und terrorisierte mit seiner Verzweiflung und Schwarzmalerei nicht nur Giedroyc, sondern auch alle anderen Mitarbeiter und Freunde von Kultura, wie etwa Józef Czapski oder Zofia Hertz. Janina, Miłoszʼ Frau, hielt sich mit dem gemeinsamen Sohn Piotr immer noch in den USA auf, wo ihr Mann fünf lange Jahre im diplomatischen Dienst der Volksrepublik Polen tätig gewesen war, und der polnische Dichter machte sich Vorwürfe, er hätte seine Familie in große Schwierigkeiten gebracht, da er nun über kein regelmäßiges Einkommen verfügte. Seine Flucht in die Freiheit ‒ in das westliche Asyl ‒ empfand er nicht als Befreiung, und die politischen, literarischen und existenziellen Konsequenzen seiner Entscheidung bereiteten ihm schlaflose Nächte.
Giedroyc tat das Richtige, als er beschloss, seinen Autor zum Meister Vincenz zu schicken, dem Kenner des Huzulenlandes in den Karpaten und dem Liebhaber der Antike, dem Erzähler und Sokratiker, dem Homer-Spezialisten und Essayisten, dem Dostojewski-Übersetzer und Philosophen. Der dreiundzwanzig Jahre ältere Vincenz war ein echter Hirte und ein leidenschaftlicher Naturverehrer, der die vorchristliche Literatur und Philosophie als Waffe gegen den modernen Nihilismus einsetzte und das Leben und seine Schönheit lobpries.
Seit Miłosz die Freiheit gewählt hatte, um der Indoktrination durch die Kommunisten und ihrem »neuen Glauben« zu entkommen, schien er schwer erkrankt zu sein. Er dachte sogar an Selbstmord und fühlte sich wie ein Renegat; ein Dichter durfte doch seine Nation niemals im Stich lassen, was ihn, der ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein besaß, sehr bedrückte.
Die Linken in Frankreich ‒ etwa Jean-Paul Sartre oder später Pablo Neruda ‒ lehnten Miłosz kategorisch ab. Zu dieser Ablehnung hatte natürlich auch die Veröffentlichung seines berühmten Essaybandes Verführtes Denken, der die psychologischen Verhaltensweisen von Intellektuellen im Stalinismus gnadenlos seziert, einen entscheidenden Beitrag geleistet. Der Vertrieb des Buches wurde durch den Verlag Gallimard geschickt gestört, was zur Folge hatte, dass er nie wieder bei Gallimard etwas drucken wollte. Polen, die ihrer Exilregierung in London nahestanden, fanden für den Verräter Miłosz ebenso wie die Kommunisten nur Worte des Spottes, zahlreiche Pasquills wurden in dieser Zeit geschrieben, das heißt, sowohl die Marxisten wie auch Antikommunisten ‒ zum Beispiel Sergjusz Piasecki (1901 ‒ 1964) ‒ suchten nach einem Stock, um den in Litauen geborenen »Überläufer« (einen ehemaligen Di-plomaten eines stalinistischen Regimes) zu schlagen, obwohl er für viele einer der wichtigsten polnischen Dichter jener Zeit war. Man verband zumindest mit Miłosz Hoffnungen auf die Wiederkehr großer polnischer Nationaldichtung, vergleichbar mit derjenigen von Adam Mickiewicz. 
Schließlich geschah ein Wunder: Durch die Besuche bei Vincenz und den Briefwechsel mit ihm kam Miłosz tatsächlich zur Ruhe, der Verbannte und Gejagte fand langsam wieder zu seiner gewohnten schriftstellerischen Kondition zurück, obwohl er in den für ihn stürmischen Fünfzigerjahren oft keine Gedichte schreiben konnte ‒ Prosa und Essays waren ihm wie gewöhnlich leicht aus der Feder geflossen, doch die Lyrik hatte sich fast ein Jahrzehnt standhaft gewehrt. Nur unter großer Mühe hatte der Autor von Verführtes Denken in jener schweren Zeit seine Gedichte zu Papier gebracht.
Welche Medizin fand der alte Mann, den Miłosz russifizierend prafiesor nannte, und der junge Menschen zu sich nach Hause einlud, um gemeinsam Platons Texte zu studieren, für die geschundene Seele seines Patienten?
»Ich möchte so sehr, dass der Gottvater Stanisław Vincenz ähneln möge. Ich würde mich dann überall sicher fühlen, und nicht nur in seinem Haus, wo ich bis jetzt tiefer geschlafen habe, als anderswo«, meinte die Philosophin Jeanne Hersch einmal, eine Schülerin Karl Jaspers, mit der Miłosz nicht nur eine lange intellektuelle Freundschaft verbunden hatte, sondern auch eine Liebschaft. Der alte Mann gab also seinem hochbegabten Patienten etwa Folgendes mit auf den Weg: »Ein Mensch muss ein Zuhause haben! Miłosz, Sie müssen sich einen Ort suchen, an dem Sie zu Hause sein werden. Und noch eines: Sehen Sie die Hügel dort drüben? Und die Steine? Und das Gras, das hier wächst? Vergessen Sie das nie: Es sind keine französischen Hügel und Steine, und es ist auch kein französisches Gras! Die Natur gehört weder den Nationen noch den Menschen …« Der Balsam seiner Philosophie und eben nicht nur seiner tröstenden Worte wirkte ausgezeichnet; Miłosz, der verlorene Poet, der im Exil unter der Entfremdung wie kein anderer litt, schrieb bereits im Herbst 1951 das Gedicht Mittelbergheim und später das ontologisch kongeniale Notizbuch: Bon am Genfer See: Der ewige Moment und die stoische Ruhe eines namenlosen Spaziergängers, der am Flussufer steht und zuschaut, wie die Zeit fließt, wie die Geschichte vergeht und eine neue entsteht, wurden endlich wiedergefunden.
Aber warum erzähle ich das alles? Ich will versuchen, es zu erklären.

*

Angeblich ist die Entwurzelung eine der schlimmsten Gefahren für unsere Psyche, und C. G. Jung behauptete sogar, dass der Mensch ohne Religion krank werden würde ‒ er müsse etwas haben, woran er glauben könne. Natürlich, es gibt Götter, denen man besser nicht trauen sollte. Man muss stets genau prüfen, an wen und an was man glaubt. Jeder ist selbstverständlich frei und kann tun, was er will. Freiheit ist neben der Liebe die stärkste Waffe des Menschen gegen jedwede existenzielle Verzweiflung, und nicht umsonst attestierte der russische Philosoph Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874 ‒ 1948) der anthropozentrischen Literatur Dostojewskis, dass sie sich vor allen Dingen mit dem Begriff der Freiheit auf allen vorstellbaren Ebenen auseinandergesetzt hätte. Die Freiheit fungiere bei Dostojewski als der Ursprung sowohl des Bösen wie auch des Guten. Der Einzelne treffe die Entscheidung, in welche Richtung er gehen wolle.
Dostojewskis Anthropozentrismus war nun für die Psychologie und Philosophie des 20. Jahrhunderts so etwas wie ein gefundenes Fressen. Sartre fiel es sogar nicht schwer zu behaupten, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei, womit er aus ihm den Schmied seines eigenen Schicksals machte. Dann konnte man auch leicht den nächsten Schritt wagen und sagen: »Die Hölle, das sind die anderen.« 
Und so glauben die Atheisten an die Lehren von Bertrand Russell oder Richard Dawkins, an den Darwinismus und an den unbestechlichen Logos des Menschen, der ihrer Meinung nach keinen bärtigen Vater im Himmel brauche, da der Homo sapiens von allein wisse, was sich gehöre und was nicht, womit auch klar sei,  dass  er  kein  Gefangener  eines  Weltenverwalters und -schöpfers mehr sein dürfe. Die Geschichte des menschlichen Geistes und Bewusstseins habe an dem Punkt Null angefangen und erlebe seitdem eine stetige Erweiterung und Entwicklung, sodass man mehr und mehr über das Sein im Universum erfahren könne, sagen die Atheisten. Das ist eine progressive Sichtweise der Geschichte, wie man sie bei den ketzerischen Theologen findet: etwa bei Origenes oder Teilhard de Chardin, die dem menschlichen Geist und der Schöpfung eine stete Weiterentwicklung bis zur Erreichung der Vollkommenheit und damit auch der Erlösung prophezeiten.
Aber selbst Atheisten müssen an etwas glauben (was mich wiederum ein wenig beruhigt).
Und woran glaube ich? Und was hält mich am Leben? Manchmal glaube ich an Gott, und ein anderes Mal kann ich ihn nirgendwo finden. Dann bin ich ein Verlorener, ein Atheist. In  solchen  Momenten  lese  ich  wieder  theologische Werke. Oder ich greife ganz tief in die geheimnisvollste Schatzkiste unserer Kulturgeschichte und hole aus ihr Swedenborg, Jakob Böhme oder gnostische Texte heraus. Ab und zu bin ich mir wiederum hundertprozentig sicher, dass es die Erlösung gibt und dass der Logos in unserer Welt göttlichen Ursprungs ist. In diesem Fall denke ich sofort, dass man sich nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen sollte, was uns die Zukunft bringen mag. Der Schmerz, der daraus resultiert, dass wir uns die Unendlichkeit oder die Ewigkeit kaum vorstellen können, verschwindet plötzlich.
Ich war zumindest stets davon überzeugt, dass es irgendwo im Universum ‒ vielleicht bloß nur in uns ‒ einen Ort geben muss, an dem man mit der Schöpfung nicht mehr hadert. An diesem Ort haben Krankheit und Tod selbstverständlich nichts zu suchen, und die Dialektik des Guten und Bösen (das Problem der Theodizee) sollte dort endlich aufgehoben sein. Es gibt in meinem Leben Augenblicke, in denen ich das Gefühl habe, den Ort der geistigen Harmonie sehr gut zu kennen. Ja, ich besuche ihn sogar, und eigentlich ist er mein Zuhause ‒ ich wohne dort.
Diesen Ort, dieses seltsame Land nenne ich Kosmopolen. Die Idee dazu verdanke ich dem Schriftsteller Andrzej Bobkowski (1913 – 1961), einem anderen großen polnischen Exilanten, der den Neologismus Kosmopolacy (die Kosmopolen) geprägt hatte, und zwar für seinesgleichen. Es geht darum, wie man als im Ausland lebender Pole und Intellektueller von der Weichsel zum unerschrockenen Weltbürger werden könne. In der Emi-gration eine neue Identität aufzubauen, ohne dass man sein Heimatland verstoßen und seine Herkunft verleugnen müsste, ist selbstverständlich eine schwierige Aufgabe; man kann scheitern. Oder man wechselt komplett die Haut und die Zunge und wird sozusagen neugeboren. Joseph Conrad sei laut Bobkowski ein ausgezeichnetes Beispiel für einen Musterkosmopolen. Der Schriftsteller hatte durch die englische Sprache eine neue literarische Identität angenommen, und wenn man in seinen Büchern nach polnischen Spuren sucht, so könnte man sicher dort fündig werden, wo es um die Charakterzüge romantischer Figuren, wie zum Beispiel Lord Jim oder Willems aus Der Verdammte der Inseln, geht. 
Es gibt verschiedene Formen des Kosmopolismus. Manche wissen gar nicht, dass sie Kosmopolen sind, obwohl sie es de facto sind. Manche haben mit Polen nichts zu tun und sind auch nie emigriert: Trotzdem sind sie Kosmopolen. Und andere wiederum wohnen in diesem mythischen Land, aber es ist ihnen gar nicht klar. Und noch andere wiederum ziehen ein T-Shirt an, auf dem demonstrativ ein Bekenntnis abgegeben wird.
Und wann habe ich erfahren, dass ich ein Kosmopole bin?

(…)

zurück