Sächsische Zeitung, 10.01.2019

„Zwischen Kant und Konzentrationslager“

Warum der Schriftsteller Artur Becker so gerne „polnisch krank“ ist, hat er jetzt in Dresden erklärt.

Artur Becker stellte in Dresden ein unveröffentlichtes Buch vor.

Von Michael Ernst 

Es werde ein sehr emotionaler Abend für ihn, kündigte der Autor Artur Becker gleich zu Beginn seiner Lesung am Dienstag im Dresdner Stadtmuseum an. Denn er habe noch nie ein Buch vorgestellt, bevor es auf dem Markt sei. Sehr emotional wurde es aber auch für das Publikum im Museumscafé, wo Becker von Scheiterhaufen im 20. Jahrhundert berichtete: „Kinderhändchen verbrannten am schnellsten." Der 1968 in Bartoszyce in den Masuren geborene Schriftsteller widmet sich in seinem zur Buchmesse in Leipzig erscheinenden Roman „Drang nach Osten“ einem sensiblen Thema nicht nur der polnischen, sondern der europäischen Geschichte. Wie gehen Sieger nach einem Krieg mit den Besiegten um, was empfinden gewöhnliche Menschen, wenn sie mit der Bedrohung durch Militär und einem neuen Regime konfrontiert werden? Noch über all diesen Fragen steht die nach der Schuld. „Ich werte nicht", meinte Becker, „sondern lasse die Stimmen sprechen.“ Mit diesen Stimmen führte der seit Langem in Deutschland lebende Fünfzigjährige sein Publikum in seine im einstigen Ostpreußen gelegene Geburtsstadt, als die noch Bartenstein hieß. Im Februar 1945 war da „Niemandsland“, wie er sagte, der Krieg war vorbei, doch „das Sterben ging weiter". Der Typhus wütete ebenso wie der Rachedurst der Roten Armee. Um Epidemien zu vermeiden, wurden Mensch und Tier auf dem Marktplatz verbrannt und in Massengräbern verscharrt. Die im Ort verbliebene deutsche Bevölkerung musste zu derlei Arbeitseinsätzen ran. Becker machte mit den gelesenen Ausschnitten mal neugierig auf die 19-jährige Irmgard, die dem Tod nur knapp von der sprichwörtlichen Schippe sprang und sich mehr und mehr Fragen stellt, den „Geruch des Todes“ aber nie vergessen kann. In ihren Gedanken vermengen sich – das alte Königsberg ist nicht weit entfernt – Immanuel Kant und Konzentrationslager, eine geradezu „postapokalyptische Welt“, so der Autor. Mit seinem Buchtitel wolle er keinen Revanchismus betreiben. Wiewohl „Drang nach Osten“ ein arg belastetes Konstrukt des Nationalismus sei. Es erinnert an die fatale Blut- und Bodenideologie des deutschen Militarismus. Doch Becker versprach, mit seinem neuen Roman „in der Gegenwart" anzukommen“, um zu sehen, „was ist davon geblieben“. Der Roman wird am 12. März erscheinen. Zur Frankfurter Buchmesse soll es dann eine Gesamtausgabe der Gedichte Artur Beckers geben. Der enorm fleißige Literat kam mit 17 Jahren nach Deutschland und kann längst auf ein sehr umfangreiches Werk an Romanen, Essays und Gedichten verweisen. Wie nur wenige verbindet er die unterschiedlichen Perspektiven von Deutschen und Polen auf Europas Geschichte. Sich selbst bezeichnet Becker daher trefflich als „Kosmopole“ – und leidet eigenem Bekunden zufolge an einer Krankheit namens Polen: „Ich bin gerne polnisch krank“.

Artur Becker. Drang nach Osten, Verlag weissbooks.w, ca. 380 S., 24 Euro (ab 12. März 2019). © Sächsische Zeitung

 

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