Volltext, 3 / 2019

Zwischen Schwerkraft und Gnade

Von Matthias Nawrat

Ich will schon lange eine Rezension über ein Buch von meinem Freund Artur Becker schreiben. Artur Becker ist ein Schriftsteller, der in der Öffentlichkeit meiner Meinung nach zu wenig Beachtung erfährt. Dabei gehört er zu den wenigen Autorinnen und Autoren deutscher Sprache, die sich in ihren Werken für grundsätzliche Fragen interessieren und nicht auf der Ebene rein diskursiver Themen verbleiben. Das macht ihn schon fast automatisch zu einem etwas abseitigen Autor. Er schreibt quer zu den Diskursen – zielt aber gerade so auf den Kern universell-menschlicher Probleme. Dadurch werden die Themen unserer Zeit in einer grundsätzlicheren Einbettung verstehbar. Mich hat Artur Becker in meinem Schreiben und Denken beeinflusst. Ich möchte versuchen zu beschreiben, warum. Insbesondere, weil ich anfangs etwas irritiert war beim Lesen seiner Texte.
Gerade ist Artur Beckers neuer Roman, der neunte inzwischen (neben mehreren Gedichtbänden, zwei Novellen und einer Essaysammlung), mit dem Titel „Drang nach Osten“ erschienen. Im deutschsprachigen Raum weckt dieser Titel sofort Assoziationen zu den Expansionsträumen der Nazis, die den Plan einer Eroberung und Kolonisierung des Ostens hegten und diesen Plan mit der industriellen Vernichtung der osteuropäischen Juden sowie mit einer Unterwerfung und Versklavung der in ihren Augen minderwertigen slawischen Völker in die Tat umgesetzt haben. Dies ist eines der Themen des Buches. „Drang nach Osten“ spielt auf einer zweiten Bedeutungsebene aber auch auf die Sehnsucht der westlichen Intellektuellen nach dem Osten an, der Titel verweist nämlich auch auf das, was der Dichter Kenneth White in einem Essay von 1987 ,Geopoetik’ nannte: eine Verschmelzung von geografischem und geistigem Raum, wie das Beispiel Galizien zeigt, das zwischen den Weltkriegen in den Werken von Joseph Roth, Bruno Schulz oder Debora Vogel und in der heutigen Zeit von Andrzej Stasiuk, Olga Tokarczuk oder Juri Andruchowytsch poetisiert wurde und wird. Nicht zuletzt die Literatur und ihre mythologisierenden Verfahren sind es, die unsere Vorstellung von der multikulturellen Welt des untergegangenen Mittelosteuropa und später der Welt des homo sovieticus noch heute prägen.
Der Roman „Drang nach Osten“ spielt größtenteils in dem Dorf Galiny in Masuren, unweit des Ortes Bartoszyce (auf Deutsch Bartenstein), wo Artur Becker 1968 geboren wurde und wo er die ersten sechzehn Jahre seines Lebens verbracht hat, bevor er 1985 nach Verden an der Aller emigrierte. Es ist eine Landschaft nicht nur der Wälder und Seen, an denen heute reiche WarschauerInnen und viele andere EuropäerInnen den Sommerurlaub mit ihren Familien verbringen. Es ist auch die Landschaft der Pruzzen, der Deutschen Ordensritter und alter slawischer Volksmythen, einer spezifischen katholischen Volksreligiosität und der ökonomischen Umbrüche, eines neuen Kapitalismus auf den Trümmern der gescheiterten, „sozialistischen“ Planwirtschaft. Für Artur Becker hat der Titel, das merkt man bald, noch eine dritte Bedeutungsebene: Er kehrt in „Drang nach Osten“, wie in den meisten seiner Bücher, in die Landschaft und geistige Welt seiner Kindheit und Jugend zurück, in einen poetischen Raum, den er aus eigener Anschauung kennt und der für ihn aufgeladen ist mit einer bestimmten Magie. Es ist der historische Raum der Teilung Europas, der Verzweiflung über die totalitäre Unterdrückung, aber auch der Hoffnung auf Freiheit und Glück.
Damit ist das eigentliche Thema des Romans benannt, nämlich die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit und Glück – verbunden auch mit der Frage nach dem Problem der moralischen Verantwortung, das etwa für Kant mit dem Begriff der Freiheit untrennbar verknüpft war.
Die Handlung des Romans lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der als Jugendlicher aus Polen emigrierte und heute in Bremen lebende Historiker Arthur (den Unterschied zum Vornamen des Autors markiert lediglich ein h) schreibt ein Buch über die Biografien seiner Großeltern in Masuren. Es soll von den ersten Jahren nach dem Ende des Krieges handeln, also von jener Zeit, in der die Zukunft Polens noch offen schien, auch im eben noch deutschen Ostpreußen, einer jener Gegenden, die von polnischen Patrioten als „Wiedergewonnene Gebiete“ (auf Polnisch „ziemie odzyskane“) bezeichnet werden, weil sie ,in glorreicheren Tagen’ der polnischen Geschichte polnisch gewesen sind.
Der Historiker reist zu Beginn des Buches nach Berkeley in Kalifornien, wo sein Onkel Stanisław lebt, den er interviewen will. Der Onkel war einst überzeugter Kommunist, er hat historische Schuld auf sich geladen, indem er sich an den Säuberungen des Nachkriegspolen von den Feinden des Kommunismus – Demokraten und anderen Oppositionellen – beteiligt hat. Nach seiner Emigration in die USA in den 1970er Jahren wurde er zu einem angesehenen Intellektuellen und Spezialisten für die Sowjetunion, er ist ein osteuropäischer Soziologe im einst verhassten Amerika. (Man denkt bei dieser Figur unweigerlich an reale Persönlichkeiten aus der Geistesgeschichte Polens, etwa den weltberühmten Soziologen Zygmunt Bauman, der in seinen Jugendjahren für die Kommunisten gearbeitet hat und später nach Israel und dann England auswanderte.)
Schon gleich zu Beginn des Romans geht es also um die historische Verantwortung des Einzelnen. Aber es geht auch um die Fähigkeit, zu verzeihen. Bald wird das Provokante an dieser Problemstellung deutlich, deutschsprachige wie polnischsprachige LeserInnen dürften es ähnlich empfinden: den Kapiteln, in denen es um das heutige Leben des Historikers Arthur in Bremen geht, sind Kapitel zwischengeschaltet, die direkt nach dem Krieg spielen und nacheinander die vier Großeltern von Arthur als junge Menschen in einem durch den Krieg materiell und geistig zerstörten, plötzlich polnischen Ostpreußen zeigen. Da ist zum einen die Deutsche Irmgard, kaum zwanzig Jahre alt, die in einer neu entstehenden Gesellschaft, in der Deutsche vertrieben oder ermordet werden, überleben muss. Da ist Jan, der zwar aus dem polnischen Lemberg stammt, aber zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen worden war, weil er zur Hälfte österreichischer Abstammung ist. Beide müssen ihre Vergangenheit nun verbergen und hoffen, dass niemand sie entlarvt. In „Drang nach Osten“ wird der Historiker Arthur, der von diesen Menschen abstammt, mit der Frage nach dem Umgang mit historischer Verantwortung ganz konkret konfrontiert. Thematisch kann man den Roman in einer Reihe mit Büchern von Günter Grass, Siegfried Lenz oder in jüngster Zeit zum Beispiel Sabrina Janesch und Ulrike Draesner lesen, die sich mit den Biografien von Polen und Deutschen in den ehemals deutschen Gebieten Ostpreußen und Schlesien auseinandersetzen. Becker muss mit diesen Fragen sogar beidseitig umgehen: in der Familie des Historikers Arthur treffen deutschstämmige, in die Verbrechen des NS-Regimes verstrickte, und polnische, mit dem Kommunismus kollaborierende Vorfahren aufeinander. Damit kommuniziert „Drang nach Osten“ auch mit den polnischsprachigen Literaten, die sich mit der Verantwortung der kommunistischen Kollaborateure auseinandersetzten, mit dem während des Krieges im Gulag inhaftierten Gustaw Herling-Grudziński etwa, oder mit dem selbst einige Jahre für die kommunistische Regierung tätigen Czesław Miłosz, dem Autor von „Verführtes Denken”. Das Thema der Aufarbeitung der persönlichen Verantwortung während der kommunistischen Epoche ist in Polen heute politisch nach wie vor brisant und wird von der aktuellen Regierung zum Teil propagandistisch ausgenutzt.
Trotz oder gerade wegen der Fallstricke, die es beim Schreiben eines Buches zu diesem Thema zu beachten gilt, behält Becker die widersprüchliche Realität der Nachkriegsjahre in Masuren genau im Blick. So sind mit der Frage nach Verantwortung – einer anderen als der oben erwähnten ,historischen’ – auch die zwei anderen Großeltern des Protagonisten Arthur konfrontiert: die Polin Renata, die aus bäuerlichen Verhältnissen stammt und sich, in Ostpreußen angekommen, mit der deutschen Irmgard anfreundet – ihr sogar helfen will, obwohl sie und ihr Mann Ryszard während des Krieges von den Deutschen verschleppt und als Zwangsarbeiter versklavt worden waren. Und ihr Mann Ryszard, der Intellektuelle, der sich in Galiny, dem kleinen Dorf, in dem alle vier jungen Leute nach dem Krieg durch den Zufall der historischen Verwerfungen aufeinandertreffen, nicht nur daran macht, polnische Weisenkinder in einer provisorischen Schule zu unterrichten, sondern auch die Bibliothek im ehemaligen Schloss der Gräfin Nitsche wiederaufzubauen, also das geistige Erbe der verhassten Deutschen zu retten.
Um die ganze Tragweite des philosophischen Problems zu verstehen, das in „Drang nach Osten“ behandelt wird, muss man sich das konkrete Setting des Romans in Ostpreußen vorstellen: Es ist eine Zeit der marodierenden sowjetischen Soldaten, des Hungers und der Vergewaltigungen (auch Irmgard wird vergewaltigt). Deutsche werden gejagt und getötet, wenn sie nicht schon geflohen sind. Polnische Partisanen hausen in den Wäldern und hoffen auf die Rückkehr der demokratischen Regierung aus London, während die Kommunisten schon längst ihre eiserne Faust um das Land schließen. Es ist damit auch die Zeit des zwielichtigen jungen Herrn Stanisław, eines kommunistischen Kommissars, der die Infrastruktur im zerstörten Galiny aufbauen soll – eine motivische Brücke zu Onkel Stanisław in den USA. Ganz eindeutig ist es nicht, ob es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt, aber es ist Herr Stanisław, der am Ende Ryszard, den gutmütigen Lehrer, einer Kollaboration mit den Partisanen verdächtigen und fast zu Tode foltern wird.
Ausgerechnet Ryszard ist es, der sich, bevor er verhaftet wird, die Fragen nach Schuld und Verantwortung am deutlichsten stellen muss. Er ist hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen. Seine Ehefrau Renata hat ihm während ihrer gemeinsamen Jahre der Zwangsarbeit in Deutschland das Leben gerettet. Er fühlt sich ihr verpflichtet. Er liebt aber auch Ela, die lebensfrohe und zugleich depressive junge Frau im nahegelegenen Bartoszyce, die sich gezwungen sieht, mit dem Kommissar Stanisław zusammenzuarbeiten, um zu überleben – sie hat mit den Kommunisten einen Pakt geschlossen, auch sie hat also Schuld auf sich geladen. Ryszard kann nicht anders, als ihr zu verzeihen, aus Liebe – nicht so sehr jedoch aus romantischer Liebe, wie der Leser/die Leserin bald merkt, sondern aus einer Liebe überhaupt zu den Menschen, die, wie Ryszard begreift, nun mal schwach sind.
Das Kapitel über Ryszard ist eines der stärksten des Romans. Das liegt daran, dass in Ryszards Konflikt sich am deutlichsten die Grundfrage von „Drang nach Osten” verdichtet, nämlich wie es überhaupt möglich sein kann, sich auf die Seite der Menschen zu stellen und nicht zynisch zu werden angesichts der Dinge, zu denen sie, und zwar wirklich als konkrete Menschen, die wir mögen oder sogar lieben, fähig sind. Das ist eine unerträgliche Frage, denn es gibt keine Antwort darauf, die sich zurückführen ließe auf einen Urgrund – selbst Kant ist nicht ohne Gott ausgekommen, um die Absolutheit seines moralischen Gesetzes zu verankern. Genau aus dieser scheinbaren Relativität heraus geht die Geschichte des Menschen immer weiter, und es stellen sich die gleichen Fragen immer wieder erneut: Was fangen wir mit unserer Freiheit an? Wie organisieren wir unsere Gesellschaften? Wie weit sind wir bereit zu gehen, um unsere Interessen durchzusetzen oder solidarisch zu sein? Für seine Taten trägt jeder Mensch selbst die Verantwortung, es gibt keine letzte Begründung dafür, warum er selbstlos und moralisch handeln sollte, eine Belohnung dafür gibt es nicht.
Der Historiker Arthur wird auch in seinem eigenen Leben mit diesem Problem konfrontiert. Zum einen auf einer theoretischen Ebene, wenn er über die heutigen Entwicklungen auf der Welt nachdenkt, über die Ungerechtigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems, oder die Rückkehr der populistischen Bewegungen und die aktuelle Krise der Demokratie – Prozesse, die man nach den historischen Kapiteln des Romans in einer größeren geschichtlichen Kontinuität begreift und denkt. Zum anderen, weil er in einem unglücklichen Liebesdreieck gefangen ist, ähnlich wie Ryszard im Jahr 1945. Er ist verheiratet mit Anna, die sich von ihm getrennt hat – er kann es nicht verwinden, dass ihre einstige Liebe, aus der eine Tochter entstanden ist, zu Ende sein soll. Zugleich liebt er Malwina, die lebensfrohe und intellektuell wie sexuell anziehende Professorin aus Warschau, die ihrerseits einen Mann und zwei Töchter hat, die sie nicht verlassen will. Auch hier taucht die Frage nach Verantwortung auf. Kann ihre Liebe Erfüllung finden, wenn Malwina dafür ihren Mann und ihre Töchter verlassen muss?
Wie eingangs erwähnt, verursachte die Prosa von Artur Becker bei mir, als ich sie vor ein paar Jahren mit dem Roman „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ zu lesen begann, eine Irritation. Die auf mich zunächst etwas pathosgeladen wirkende Sprache löste in mir eine merkwürdige Abwehrreaktion aus. Sie schöpft oft aus mythologischen, gnostisch-mystischen oder religionsgeschichtlichen Kontexten und stellt beispielsweise den Geschlechtsakt als etwas kosmisch-heiliges dar. Der Mensch wird – wie etwa auch in den Büchern über „Shikasta“ von Doris Lessing – in einen kosmisch-mythischen Kontext eingebettet, wo er doch, das ist doch sicheres Wissen, dachte ich, an die Erde gebunden und ausschließlich mit ökonomischen, soziologischen oder psychologischen Problemen konfrontiert, in jedem Fall aber allein ist, dem Nihilismus unserer Zeit ausgeliefert.
Inzwischen habe ich verstanden, dass in Artur Beckers Literatur etwas Entscheidendes geschieht, wenn von Religion oder von Mystik die Rede ist. Artur Becker ist nämlich ein durchaus brutaler Realist. Denn wo, wenn nicht in ihrem Glauben an die Religionen, die Mystik, oder die mit ihnen verwandten Ideologien mitsamt ihren machtpolitischen Entartungen zeigt sich die Schwäche der Menschen? Erst wenn man ihre Hingabe an die Religionen und die Ideologien versteht, eröffnet sich überhaupt ein Blick auf die ganze Verzweiflung oder Hoffnung, zu der Menschen in ihrer historischen Einbettung fähig sind. Sich mit den Glaubens- und Machtsystemen der Menschen zu beschäftigen, heißt, die Schwäche der Menschen verstehen zu wollen, aus der heraus viele in ihrem historischen Jetzt Schuld auf sich laden, die unverzeihlich bleibt. Die Prosa Beckers ist von einer shakespearehaften Menschenliebe durchdrungen, die alle Abgründe kennt. Es schwingt in ihr ein Ton mit, der einen überbordenden Lebenswillen fühlbar macht, eine Sehnsucht sowohl nach dem Geistigen als auch dem Körperlichen, nach der Heiligkeit und dem Exzess, nach dem Hohen und dem Niederen, der Ordnung und dem Chaos. Dabei bleibt der Blick stets auf die Möglichkeit der Erlösung von allem Irdischen gerichtet, ohne dass das Irdische, die Ungerechtigkeit, die Gewalt, jemals ignoriert oder relativiert würden.
In diesem Sinne spricht „Drang nach Osten“ auch – über den Graben des Todes hinweg – mit dem Geist Simone Weils. Die Philosophin, die um die Würde des Einzelnen bemüht war und um die Frage, wie Liebe zum Menschen angesichts der Gewalt in der Welt möglich ist, war wie Becker der Mystik zugewandt und stellte ausgehend vom Verhältnis des Einzelnen zu Gott ganz konkrete soziologische und politische Fragen. Es ging ihr immer auch um die Frage, ob es in dieser Welt überhaupt Hoffnung geben kann angesichts der Schwäche der Menschen. In diesem Sinne sind die zwei von ihr benutzten und auch „Drang nach Osten“ jeweils in den Kapitelüberschriften als Untertitel strukturierenden Begriffe „Schwerkraft“ und „Gnade“ zu verstehen. Schwerkraft ist das, was den Menschen zur Erde zieht, ihn in seine politische und soziale Situation verstrickt und in ihm aufgrund der geschichtlichen Ungerechtigkeit und Gewalt das Bedürfnis nach Vergeltung weckt. Gnade erfährt er in den Momenten, in denen es ihm gelingt, sich von den irdischen Kausalitäten zu befreien und das Bedürfnis nach Vergeltung zu überwinden. Zwischen diesen beiden Polen ist der Mensch gefangen.
Der Roman „Drang nach Osten“ ist nicht immer leicht zu lesen, er ist in einer überbordenden Sprache geschrieben, er ist reich an philosophischen und kulturgeschichtlichen Exkursen. Aber diese stilistische Manier ist kostbar, denn sie zielt immer auf einen existenziellen Kern. Becker widersetzt sich dem Trend der deutschsprachigen Literatur, metaphysische Fragen zu meiden und pathosfrei zu sprechen, um den Nihilismus unserer Zeit zum Ausdruck zu bringen, indem er ganz im Gegenteil seine Furchtlosigkeit gegenüber einer ganzheitlichen Menschenliebe hervorkehrt. Es zeigt sich in seiner Prosa der Geist eines Europäers, der die Vielschichtigkeit des abendländischen Denkens von den Mythen, über die jüdisch-christliche Geistesgeschichte und die Aufklärung, bis zum Poststrukturalismus und dem Denken der östlichen und westlichen Linken durchdrungen hat und diese Schichten mit größter Geistesgegenwärtigkeit vor uns ausbreitet. Man spürt den Schmerz darüber, dass alles nur einmal existiert, dass alle Menschen, die wir lieben, vergehen. Damit rührt Beckers Prosa an Fragen, die im heutigen Diskurs über soziale, nationale oder kulturelle Herkunft – zumindest in dieser Grundsätzlichkeit – nicht gestellt werden können, aber gerade so die tiefere Wirklichkeit des Menschseins sichtbar machen. Denn der Mensch hört ja, wie sich heute zeigt, nicht auf, schwach und verloren, aber auch, in einem existentiellen Sinne, hoffnungsvoll zu sein.

© Volltext & Matthias Nawrat, 2019

 

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