Ostragehege, Heft 94 (IV/2019)

Unsere Großmütter, unsere Großväter
Von Dariusz Muszer

Man könnte meinen, über Ermland und Masuren sei in der deutschsprachigen Literatur schon alles gesagt worden. Arno Holz, Ernst Wiechert, Arno Surminski oder Siegfried Lenz hätten das Thema ausgiebig ausgeschlachtet, die schönsten Sonnenuntergänge in Worte gefasst, brauchbare Gedanken und Landstriche zur Schau gestellt und jetzt sollte Ruhe im Karton herrschen. Doch wenn man „Drang nach Osten“, das neuste Buch von Artur Becker liest, dann wird man eines Besseren belehrt. Denn die Geschichte geht doch weiter, und diesmal wird sie durch die Enkelkinder geschrieben.
Der Autor selbst kann seine Wurzeln bei verschiedenen Völkern auffinden. In seiner Abstammungs-DNA gibt es sowohl Slawen als auch Germanen, ja selbst längst ausgelöschte voreuropäische Ethnien wie Barten oder Natanger sind in ihr vorhanden. Zwar wurde Becker 1968 in Bartoszyce in Ermland geboren, aber der Vereinfachung halber wird er in der Bundesrepublik gerne als Masure gehandelt. Und es ist gut so. Dass man ihn allerdings in Polen für einen Deutschen schlechthin und in Deutschland für einen Polen schlechthin hält, ist eine selbstverständliche Schlussfolgerung.   
Beckers verzwickte Herkunft liefert auch eine Erklärung dafür, warum gerade er und kein anderer fähig ist, einen so opulenten und geschichtstreuen Roman wie „Drang nach Osten“ zu schreiben. Er bleibt ein Ausnahmeschriftsteller im deutschsprachigen Literaturbetrieb: ein unermüdlicher Brückenbauer, der alleweil unvoreingenommen handelt. Sogar wenn er Schläge austeilt (was er selten tut), bleibt er besonnen und gerecht. Bis zum bitteren Ende. Denn die Wahrheit muss bei ihm ans Licht kommen. So oder so.  
Dazu ist er ein (selbst)bewusster Autor: Seine schriftstellerische Neigung und Neugierde gelten nie den jeweiligen Nationen, den Ländern auf der Landkarte oder dem Tagesgeschäft der Politik, sondern immer nur dem Menschen an sich – dem Individuum. Diese schriftstellerische Zugehörigkeit zu der alten, fast vergessenen Schule eines William Faulkner, John Steinbeck oder Knut Hamsun ist eine Seltenheit in der heutigen Moderne.
In dem Roman gibt es zwei Zeitstränge, der eine  spielt in unserer heutigen Welt und führt in die USA und nach Deutschland und Polen, und der zweite ist in der Vergangenheit angesiedelt: 1945-46, in den Jahren also, als der Zweite Weltkrieg in Osteuropa in die Verlängerung geht. Die Sowjets und ihre Schergen übernehmen die Macht in Polen und ein grausamer Bürgerkrieg wütet. Menschen werden Opfer der Zwangskonvertierung zum Kommunismus, Unschuldige werden durch die neuen Herrscher gefoltert, gemordet, beraubt, und Frauen, unabhängig von ihrer Nationalzugehörigkeit, geschändet und vergewaltigt.
Die zentrale Gestalt in „Drang nach Osten“ auf der Heute-Zeitebene heißt Arthur Bekier, und es ist eine Anspielung auf des Autors polnischen Nachnamen. Mit siebzehn ist der Protagonist nach Hamburg zu seiner Tante gegangen, ganz allein. Seine Eltern, Janina und Radosław, und beide Geschwister, Jola und Marek, sind in dem damals noch sozialistischen Olsztyn, der Woiwodschaftshauptstadt, geblieben. Bekier ist Historiker, arbeitet an der Universität Bremen, schreibt populärwissenschaftliche Bücher, eines davon wurde sogar zum Bestseller. Er lebt getrennt von seiner Frau, hat eine Tochter, einige Freunde (allesamt Bio-Deutsche) und führt eine zärtliche Fernbeziehung mit Malwina, einer Germanistikprofessorin aus Warschau, die verheiratet ist und für ihren Geliebten ihre Kinder und ihr Land nicht verlassen will. Arthur wiederum, der inzwischen ein eingefleischter Westler geworden ist, kann sich nicht vorstellen, in seine alte Heimat zurückzukehren. Er will in Deutschland bleiben.
Und so leben die beiden Liebhaber in einem vereinten Europa ständig in dem Zwiespalt: in Angst vor Verlust und Verloren-Sein. Dauernd auf Achse seiend, wie Fernfahrer. Sie besucht ihn in Berlin oder Bremen, er trifft sich mit ihr irgendwo in Polen. Zufällige, standardisierte Hotelzimmer sind Zeugen ihrer körperlichen Zuneigung, ihrer endlosen Gespräche, ihres Glücks und ihrer Niederlagen. Zweifelsohne verbindet Malwina und Arthur eine große romantische Liebe. Doch selbst die Tatsache, dass sie in Zeiten der Globalisierung stattfindet, hindert sie nicht daran, weniger unglücklich zu wirken als diejenige zu Zeiten Romeos und Julias aus Verona, wo es noch keine Smartphones und kein Skype gegeben hat. Ihre Beziehung scheint zum Scheitern verurteilt zu sein. Arthur ist verzweifelt und stellt Malwina ein Ultimatum. Und sie findet eine Lösung, die aber nicht alle Beteiligten zufriedenstellt.
Die Hauptfiguren aus der Vergangenheit sind Bekiers Großeltern, mütterlicher- und väterlicherseits: Renata und Ryszard, polnische Zwangsarbeiter, die ihre Ehe kurz nach Kriegsende in Braunschweig geschlossen haben; Irmgard, eine Einheimische aus Ostpreußen, und der geheimnisvolle Jan, der sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis bei sich aufnimmt. Sie alle arbeiten gemeinsam in einem in Staatseigentum überführten Gutshof in Galiny, einem Dorf zehn Kilometer südlich von „Bartoschütze”, wie Irmgard, die noch kein Polnisch spricht, die Stadt Bartoszyce nennt.
Ihr Alltag ist durch den Kampf gegen die Naturgewalten, gegen marodierende Soldaten, die Miliz und Partisanen, die Ryszard etliche Male in den Wald entführen, geprägt. Das Essen ist knapp, es gibt kaum landwirtschaftliche Geräte und Maschinen, weil selbst das, was niet- und nagelfest war, konfisziert und in die Sowjetunion abtransportiert wurde. Irmgard wird infolge einer Vergewaltigung schwanger und sie muss eine Entscheidung treffen, bevor sie Jan heiratet: Was soll mit dem ungewollten Kind und mit dem Erzeuger, dem Landstreicher, passieren? Dann wird noch eine Frau aus Litauen von den russischen Soldaten entführt und später im Straßengraben gefunden: geschändet und tot. Ryszard gerät in die Hände der Geheimmiliz und wird von Stanisław, Renatas Onkel, in einem Duschraum im Keller gefoltert.
Jahre später, in unserer Gegenwart, trifft Arthur Bekier, Ryszards Enkel, Stanisław in Kalifornien, wo er in Berkeley als Professor der Soziologie und Spezialist für die Sowjetunion lebt. 1968 hat er sich als Jude ausgegeben, um die Volksrepublik Polen verlassen zu können – mit einem Einwegpass. Er ist in den Westen gegangen und 1971 nach Amerika ausgewandert. Diese Figur ist an Zygmunt Bauman, polnisch-britischen Soziologen und Philosophen, angelehnt, der mehrmals in dem Roman zitiert wird. Zwischen 1945 und 1953 war Bauman politischer Offizier und Agent des Militärischen Informationsdienstes und bekämpfte den polnischen antikommunistischen Widerstand. 1968 emigrierte er nach Israel, drei Jahre später  wurde er auf einen Lehrstuhl als Professor für Soziologie an der University of Leeds in Großbritannien berufen, den er bis zu seiner Emeritierung 1990 bekleidete. Stanisław, sein literarischer Doppelgänger, hat ihn um einige Jahre überlebt.
In dem Roman wimmelt es nur von gekonnt skizierten Nebengestalten. Eine der interessantesten ist ein geheimnisvoller Mann in Schwarz, der eine Baskenmütze trägt und sowohl Deutsch wie auch Polnisch spricht. Er scheint, durch Zeit und Raum reisen zu können. Und er altert nicht. Er taucht auf, sagt, was er zu sagen hat, und verschwindet wieder. Ein Wanderer, der dem Ewigen Juden ein wenig ähnelt. Die Frage, ob er zum Ewigen Deutschen mutiert ist, bleibt in dem Roman unbeantwortet.
Es hatte recht lange gedauert, bis sich ein deutschsprachiger Autor endlich traute, ein Buch über Geschehnisse in Ostpreußen nach dem Zweiten Weltkrieg aus der polnischen Perspektive – wie auch der eines Emigranten – zu schreiben. Und dieser waghalsige Versuch ist Artur Becker so großartig gelungen, dass man nach dem Zuklappen des Buches sofort Lust verspürt, noch mehr über die Protagonisten zu erfahren und weiter zu lesen. Da war nämlich ein gestandener Erzähler am Werk gewesen, der genau wusste, wie man nicht nur Ermland-Masuren, sondern auch die Freie Hansestadt Bremen für die zeitgenössischen Leser schmackhaft machen kann. Und das ist eine Kunst und eine Leistung für sich.
Doch „Drang nach Osten“ bleibt nicht nur ein großartig und glaubhaft verfasster Roman. Es ist auch ein Denkmal, das zum Gedächtnis an alle Frauen und Männer gesetzt wurde, die nach dem Zweiten Weltkrieg Europa geholfen haben, sich aus den Trümmern zu erheben: zum Gedächtnis an unsere Großmütter und unsere Großväter.

Artur Becker: „Drang nach Osten“, Roman, weissbooks.w, Frankfurt am Main 2019, 24 Euro, 395 Seiten, ISBN 978-3863371197.
© Ostragehege & Dariusz Muszer

 

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