Artur Becker: Die Zeit der Stinte,
Novellenfragment

(...)

Zweiter Teil

1

Es war die Zeit der Stinte, die durch den See zogen und sich vermehrten. 1947. Richard Schmidtke hatte den Wald seit zwei Jahren nicht mehr verlassen. Draußen an den Ufern des Geserich­sees lauerte die Rache auf ihn. Es gab nur zwei Menschen, die ihn nicht umbringen wollten: seine Mutter und der Koch Johann Brodd, der ihm jeden zweiten Tag etwas zu essen brachte. Aber er hatte keinen Hunger mehr. Seit das Flugboot auf dem See gelandet war, pisste er Blut und Rasierklingen.
Er saß am Tisch in seiner Holzhütte, trank schwarzen Tee und wartete. Seine Nieren loderten. Johann Brodd hatte ihn gewarnt, dass sie jeden Moment bei ihm anklopfen könnten. Richard sagte daraufhin nur: »Führe sie zu mir. Oder hau ab! Renn um dein Leben!«
Es war nichts einfacher, als zu sterben. Er hatte selbst Hun­derte in den Tod geschickt und es niemals bereut. Was soll’s, hatte er sich immer gedacht, sie müssen sowieso irgendwann ab­kratzen. Ob gestern oder heute? Ich kann ihnen dabei sogar helfen. Und deswegen hatte er an diesem Morgen kein Mitleid mit sich selbst. Er war bereit. Er würde bestimmt nicht betteln, damit sie ihm noch ein paar Minuten schenkten.
Der Schnee hatte das Dach der Hütte in der Mitte ein­gedrückt, es hatte den Winter nicht überstanden, und nun schneite es immer noch, im April. Das Wasser tropfte von der Decke in die emaillierte Schüssel, und er hörte draußen Schritte, die so laut wa­ren wie das Tropfen in der Stille seines Verstecks. Wie würden sie es tun? Mit einer Waffe? Einem Messer? Oder einem Strick? Hauptsache, dass sie ihn nicht vergasen konnten. Das Vergasen musste wehtun. Dann lieber eine Kugel in die Schläfe. Ohne Worte.
Er würde sie nicht begrüßen. Er wollte schweigen. Johann Brodd, sein ehemaliger Koch, hatte erzählt, es seien drei Männer. Er fragte sich, ob er sich an sie er­innern würde. Bestimmt nicht. Und er ärgerte sich, dass sie noch am Leben waren. Was war in Stutthof passiert? Waren sie geflo­hen? Wie hatten sie nur ... vergessen werden können? Welcher Dummkopf hat diese drei Häftlinge entkommen lassen? Sie sollten doch schon seit mindestens zwei Jahren tot sein. Niemand würde dann mehr wissen, was aus ihren Leichen geworden war. Niemand würde sie identifizieren können.
Er schlürfte den Tee und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte Fieber. Die Bäume waren gut. Schmidtke hatte gelernt, mit ihnen zusammen zu sein wie mit einer Frau. Wie mit eigenen Kindern. Ein Baum war stärker als alle KZler zusammen.  Manche Kiefern, insbesondere die, die um seine Hütte herum standen, redeten im Schlaf mit ihm. Er hätte nie geglaubt, dass so etwas möglich sein könnte, aber hier in der Einöde des Waldes war es möglich. Ihre Nadeln be­suchten ihn des Nachts in der Wärme seines Bettes und zerkratz­ten seinen Rücken und seine Brust. Er hatte keine Angst. Die Na­deln drangen in seinen Mund, und er musste sie zerkauen und herunterschlucken. Er betrachtete sich morgens im Spiegel und sah jedes Mal, dass er an der Brust kleine Kratzwunden hatte.
Träume kannte er nicht. Was sind Träume? Jeder Schlaf war wie ein Baum. Du schlägst Wurzeln und spürst den Stamm und klopfst dir auf den dicken Bauch: Ich bin ein mächtiger Stamm. So fühlte er sich, wenn er schlief.
Früher oder später hätte ihn jemand entdeckt, und sei es nur, dass der neue Förster zufällig auf seine primitive Behausung ge­stoßen wäre.
Vielleicht waren die drei gar keine Häftlinge? Vielleicht war es ja die Miliz, im Auftrag der Staatsanwaltschaft oder eines  Militärge­richts?  Wie  kam  er  darauf, dass es seine ehemaligen Häftlinge sein könnten? Johann Brodd hatte gesagt, sie seien auf dem Hof bei seiner Mutter gewesen und hätten sie ausgefragt. Geschlagen. Bis sie es ihnen gesagt hatte. »Ja, er versteckt sich im Wald. Tut ihm nichts. Er versteckt sich bloß ...«
Und die Männer aus dem Flugboot hätten Deutsch gesprochen. Johann war Deutscher. Er würde doch nicht lügen.
Richard Schmidtke kannte auch keine Lüge. Was war das, eine Lüge? Es gab nur die Wahrheit. Und der Wald bestätigte ihm, dass er sich nicht irren konnte. Überall hier wuchs die Wahrheit, in jedem Baum, in jedem Ast. Sie stand da und ver­mehrte sich mit jedem neuen Zapfen und Grashalm.

Die Schritte im Schnee, wie seltsam, taten seinen Ohren nicht weh, obwohl sie immer lauter wurden. Er war geduldig. Die Nie­ren brannten, und sein Penis, mit einem Taschentuch bandagiert, war schlaff und kalt.
Im Grunde genommen hatte er viel Glück gehabt. Der Wald hatte ihn beschützt und nicht verraten. Er verübelte es seiner Mutter nicht, dass sie ihn verraten hatte. Sie war eine tapfere Frau. Und sie hatte die Wahrheit gesagt. Und nie geweint. Nach keinem einzigen Brief von der Ostfront. Ihre Brüder waren dort irgendwo in den Birken gefallen (am Geserichsee gab es so gut wie keine). Die  Birken gefielen ihm nicht. Die Birken waren Russen und hielten Totenwache. Sie waren ihm so fremd wie Russland.
Er war zu Hause geblieben, als der Krieg anfing. Er war ja kein jun­ger Mann mehr. Er hatte eine andere Methode gefunden, sich nützlich zu machen. Das kleine Außenlager auf seinem Hof zu errichten, war seine Idee gewesen. Stutthof platzte aus allen Nähten. »Hier, bringt sie zu mir. Ich werde meine Häftlinge füttern, bevor ihr sie holt. Wie viel zahlt ihr pro Kopf? Und für die Rübensuppe? Die Königsberger Klopse schmecken den Bärtigen nicht, weil sie nicht koscher sind.«
Sein Hof war groß, o ja. Er hatte die Scheune, wo sie schliefen, bewacht wie eine Bank. Jede Nacht war er auf den Beinen gewe­sen, zusammen mit den Soldaten. Er bereute nur, dass er die Häftlinge nicht persönlich hatte begraben dürfen. Das hätte ihn stolz gemacht. Er wäre gern Pfarrer geworden. Jeder Häftling hätte sein eigenes Grab bekommen. Mit seinem Namen. Und dem Sterbe­datum. Aber dafür hatte es keine Zeit gegeben. Es musste alles so schnell gehen. Sie sollten weiterfahren, mit den Zügen. Und die Felder mit Weizen und Mais waren auch keine Friedhöfe. Seine Landsleute hatten Hunger und mussten mit Brot versorgt werden. Aber trotzdem – er würde es jedem bestätigen –, es hatte alles Sinn gehabt, die ganze Arbeit, die er getan hatte. Erst im Krieg war er ganz zu sich selbst gekommen. Das stumme Sitzen und Warten, dass die Äh­ren gediehen und das Brot gebacken wurde, hatte endlich ein Ende genommen. Da war Stutthof, und später das Außenlager, und er Richard Schmidtke hatte einen Auftrag gehabt.
Er hörte keine Schritte mehr. Es hatte aufgehört zu schneien. Im Fenster zeigten sich Schatten. Schwarzvermummte.
Das Eis auf dem Geserichsee war längst abgetaut wie jeden April, und es schneite nicht mehr.
Er hörte leises, entschiedenes Klopfen. Knöchel, die an die Tür pochten. Wie ein Herz.
»Es muss sein, es muss sein«, flüsterte jemand.

Schmidtke senkte den Kopf und schloss die Augen. Das Brodeln in seinen Nieren hatte überraschend nachgelassen, und da er sich an diesen Pfahl im Fleisch schon ge­wöhnt hatte, vermisste er das Leiden auf einmal. Er zog unter dem Tisch seine Beine zusammen, versetzte sich selbst einen kräftigen Faustschlag auf die rechte Wange und biss sich auf die Zunge.
Er hatte die Tür nicht gehört und nicht gemerkt, wie sie in die Hütte getreten waren. Er wollte die Fremden nicht sehen, ihre Gesichter und Lippen, die zu ihm spra­chen.
»Guck dir das an«, sagte eine Männerstimme. »Er hat sich in die Hose gepisst, das Schwein.«
»Sitzt da«, hörte er eine andere Stimme, die wahrscheinlich dem Anführer angehörte, »sitzt da und will uns keines Blickes würdigen. Wir sollten ihm die Augen ausstechen.«
»Lasst uns das Schwein endlich schlachten«, sagte ein Drit­ter. »Wie wir es besprochen haben, kurz und schmerzlos.«
»Nein«, sagte wieder die erste Stimme. »Er soll uns wenigs­tens einmal angucken.«
Schmidtkes Kopf kippte nach hinten, weil ihn einer der Eindringlinge an den Haaren gepackt und so heftig nach hinten gezerrt hatte, dass in seinem Hals etwas knackte. Er riss die Augen auf – er lebte noch – und sah die Petroleumlampe flackern, als wäre sie von einem Mückenschwarm umgeben.
Er hatte erst jetzt richtig Angst. Die Fremden waren zu ihm hereingekommen, als gäbe es für sie keine Wände. Sonderbare Wesen, dachte er kurz, sie landen auf meinem Geserichsee, gehen durch die Wände und lesen meine Gedanken. Wer sind sie? Diese verfluchten Huren­söhne Davids, des Herren ...
Und dann sah er sie plötzlich, drei vermummte Gesichter über seinem, wie an einem Operationstisch im Krankenhaus.
Sind das Fallschirmjäger?   
Drei Paare Eulenaugen schauten auf ihn herab, und die un­sichtbare Hand packte ihn wieder an den Haaren.
Schmidtke sollte sich später daran erinnern, dass er mit seiner Nase auf den Tisch geknallt und in ein schwarzes Loch gefallen war. Als er  das Be­wusstsein wiedererlangt hatte, wusste er nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Sekunden? Minuten? Wochen? In sei­nen Nasenlöchern klebte geronnenes Blut, sein Kopf lag auf den harten Eichenbrettern, und vor ihm standen die drei Fremden. Der Anführer goss ihm kaltes Wasser ins Gesicht, eine Schöpf­kelle voll, und sagte: »Mein Name ist Gerald Juchelka. Und du, Richard Schmidtke, bist erlöst. Wir werden uns die Hände nicht an dir dreckig machen.«
»Schert euch zur Hölle!«, brüllte er.
»Ich hab’s euch doch gesagt«, zischte der zweite Mann, »nichts wie hinrichten, das Schwein ...«


2

Er saß am Tisch und rang nach Luft. Sie hatten ihm den Strick um den Hals gelegt, und was bald geschehen musste, würde noch nicht jetzt vollzogen werden – Richard Schmidtkes Henker ließen sich Zeit. Trotz alledem atmete er schwer, hechelte und betastete mit seinen kalten Fingern die Kehle. Sein Adamsapfel zuckte mehrmals, und er dachte: So wollen sie es also tun, leise und ohne Eile. Ich werde auf den Stuhl steigen, nackt wie ich bin, nur in Unterhosen – meine Kleider habe ich auf ihren Befehl hin ablegen müssen. Der dicke Eichenbalken wird nicht nachgeben. Er wird bis in alle Ewigkeit halten: keine Gnade für dich, Sohn der Erde. Was ist aber Gnade? War ich nicht zu meinen Häftlingen gnädig? Sind sie nicht wie Helden gestorben?
Sie wurden erlöst, nicht bestraft, und es ist ein Jammer, ein einziger Jammer, dass ich jetzt für meine Taten büssen muss. Ihre Rächer, die Rotarmisten, waren stärker als wir. Sie fielen bei uns im Dorf ein, sie kamen in unseren Garten und legten die Köpfe von Frauen und Kindern in die Bienenstöcke, mit Beilen abgetrennte, kleine Häupter, als wollten sie sie einpflanzen. Wie Kürbiskerne. Martha, meine Schwester, hat die Bienenstöcke aufgemacht, und die weißen Lippen und die durchsichtigen zarten Insektenflügel waren erfroren. In jedem der gelb gestrichenen Kästen steckte ein Haupt, und die Soldaten zogen zum nächsten Dorf. Die Kopfjäger. An ihren Händen klebte Honig.
Aber wer bin ich? Und was tue ich hier? Warum ergebe ich mich kampf- und tatenlos?
Juchelkas Kameraden, gebürtig aus Wilna, entkorkten eine Flasche Wodka und tranken einen gehörigen Schluck. Juchelka weigerte sich, den Wodka mit ihnen zu teilen. Später. Wenn das Aas endlich tot ist, sagte er durch die Zähne.
Richards Füße froren. Er breitete auf dem Tisch seine Arme aus, klammerte sich an ihn, als wollte er ihn umarmen und unter sich begraben. Was würden sie mit seinem Leichnam anstellen? Mit Benzin übergießen und verbrennen? Oder einfach verfaulen lassen?
Seine Unterlippe blutete, er hatte einen Faustschlag abbekommen, der ihn wachrütteln sollte. Er war aber wach.  Er schlief doch nicht mehr, seit dem 1. September  hatte er kaum eine Nacht durchgeschlafen. Und er war für seine Häftlinge immer da gewesen, hatte sich doch um sie gekümmert. Und was wollten sie jetzt noch von ihm? Warum waren diese drei Männer hier? Um der Gerechtigkeit willen? Welche Gerechtigkeit vertraten sie? Warum mussten sie sich rächen? Er hatte doch nichts Böses gewollt, als er auf seinem Hof das Außenlager baute.
Seine Häftlinge waren nicht imstande gewesen zu begreifen, dass sie so schnell wie möglich von ihrem Leid befreit werden mussten. Auf dem Friedhof am Rande des großen Waldes, wo er sie zur Strafe am liebsten begraben hätte, hätten sie endlich ihre Ruhe und Freiheit finden können. Die Alt-Christburger Wälder kannte er besser als jeden anderen Ort in Ostpreußen, sie waren ihm sogar vertrauter als seine Mutter. Dort im Forst war das wahre Jenseits. Die Bäume versteckten die Toten und gaben ihnen zu essen und zu trinken.
Und nun würde er an diesem Morgen zu seinen Häftlingen und all den anderen, die jemals gelebt hatten, gehen. Er würde sie alle treffen, die Gerechten und Ungerechten, und seine Häftlinge würden ihm bestätigen, dass ihr Gott, an den sie glaubten, in Wirklichkeit ein Rächer war – dessen war er sich jetzt sicher.
Die Offiziere in den schwarzen Uniformen, die Richard Schmidtke verpflichtet hatten, waren seine Schutzengel gewesen. Sie hatten ihn von aller Schuld losgesprochen. Dafür, für diese Befreiung, hatte er nicht einmal Jesus verleugnen müssen. Er war Christ. Ein neutestamentlicher Christ. Er durfte die Beichte ablegen, das hatten sie ihm nicht verboten.
Er, der Landwirt und Kenner des Forstes Alt-Christburg, hatte für einen Moment die Zügel in der Hand gehabt, er hatte das Sagen gehabt, wie der Gott seiner Häftlinge, die bei ihm Obdach und Proviant gefunden hatten auf ihrer weiten Reise. Und das war mehr als alles, was er sonst jemals getan hatte. Er hatte über Leben und Tod mitentscheiden dürfen.
Was er hasste, war das Leiden: Niemand sollte sich verstecken wie eine Spinne, wie er selbst.

Die Fallschirmjäger, falls sie wirklich solche waren,  hatten ihre Gesichter entblößt und die Masken in die Rucksäcke gesteckt. Er sollte sie ruhig ansehen und in seinem Gedächtnis kramen, vielleicht würde er sie wiedererkennen. 
Einer der Litauer füllte ein Glas mit Wodka und stellte es Richard hin. Sie redeten mit ihm. In seiner Sprache. Auf Deutsch.
»Ihr fragt nach meinem letzten Wunsch«, sagte er, »aber ich habe keinen. Ich weiß nur, dass ich euch nicht kenne. Ihr gebt euch als meine ehemaligen Häftlinge aus. Aber ich erinnere mich nicht daran, euch jemals gesehen zu haben. Ihr seid doch schon gestorben, ihr wollt es nur nicht wahrhaben. Euch und mich gibt es längst nicht mehr.«
Schmerzen zerfetzten wieder seine Nieren. Und wenn ihn die Angst tatsächlich bedrängte, musste sie seine Nieren bewohnen. Wo er am anfälligsten war. Sein Vater hatte ihm einmal einen Tritt in die Nieren versetzt. Er hatte das nicht gewollt, er hatte woanders hintreten wollen. Er hatte aber das Ziel verfehlt. Der schwere Winterstiefel erwischte die Nieren. Richard war damals ein zu allen Streichen aufgelegter Neunjähriger gewesen und hatte ein Huhn in den Brunnen geworfen. Er wollte nur herausfinden, ob das Huhn es schaffen würde, aus der dunklen Tiefe des Brunnens herauszuklettern. Für dieses Experiment hatte ihm sein Vater eine Tracht Prügel verabreicht.
Er hob das Glas und kippte den Wodka runter, mit einem Ruck, danach wischte er sich mit dem nackten Arm den Mund, und er fragte: »Wie habt ihr herausgefunden, dass ich noch lebe?«
Juchelka schickte sich an, loszulachen wie im Zirkus, seine Lippen gingen auf – die Lachfältchen begannen sich zu formen –, dann schlossen sie sich wieder, und seine Miene wurde streng und kühl. 
»Du wirst staunen! Vladislav hat an einer spiritistischen Sitzung teilgenommen«, sagte Juchelka und zeigte mit dem Kinn auf den kleinen Mann, der mit der Flasche Wodka in der Ecke stand. »Und seine verstorbene Schwester hat ihm gesagt, dass du noch lebst. Ich konnte es gar nicht glauben. Ich musste es mit meinen eigenen Augen sehen, dass du tatsächlich noch nicht ins Gras gebissen hast, Schmidtke. Und wir haben uns sofort entschlossen, hierher zu kommen und dich zu töten. Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt und viel Geld ausgegeben. Aber es hat sich gelohnt.«
Der andere Litauer hieß Maks. Waren sie beide auch Juden wie Juchelka?
»Vladislavs Schwester«, sagte Maks, »hast du zusammen mit uns nach Stutthof einliefern lassen, Schmidtke, du hast sie auf dem Gewissen.«
»Seit wann können Tote mit uns Irdischen reden? Seid ihr schon so verkommen in eurem Geisterglauben?«, fragte er und spuckte auf die Dielen. »Teuflische Bande! Kennt ihr eure eigenen heiligen Gesetzesbücher nicht?«
»Schweig! Du Hund! Deine Stunden sind gezählt!«
Die aufgehende Sonne, die durch die kleinen Fenster der Hütte schien, blendete ihn. Er sah ihre Strahlen zum letzten Mal. Juchelka drehte an der Petroleumlampe und löschte das Licht. Es war das Ende, das jeder fürchtete. Richards Furcht war aber klein, seine Erwartungen groß: Würde er im Jenseits glücklich sein? Er hatte doch seine Verbündeten in den Bäumen. In den Tannen. Im Wald. Ein Teppich aus Nadeln überdachte den Forst Alt-Christburg. Die Bläue des Himmels war lachhaft schwach, nicht der Rede wert im Vergleich zur grünen Kraft und zum Stolz der Kiefern und Fichten und ihrer Zweige. Und an den Rändern der Sümpfe und den Ufern des Sees stelzten die Reiher und pickten mit den spitzen Schnäbeln nach ihrer Beute. Fischadler kreisten über dem Geserichsee und suchten nach Stinten. Auf dem Sonntagsmarkt in Deutsch-Eylau verkauften alte Weiber Kartoffeln und Eier. Und sein Koch Johann Brodd musste jetzt Todesängste ausstehen. Genauso wie die Mutter Schmidtke. Aber sie würden beide verschont werden.
»Du wirst dich an uns erinnern«, sagte Gerald Juchelka, »das verspreche ich dir. Du wirst deine Erinnerung herausschreien, weil du ein Feigling bist – nicht einmal ein richtiger Mörder, sondern ein Feigling, Schmidtke!«

(…)



 

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