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Artur Becker: Der Dadajsee
Romanfragment

Stare, tote Stare lagen auf der Erde in Barbaras Garten, überall unter den Kirschbäumen, unsichtbar in der Nacht. Die Zeit der Stare war gekommen, und Onkel Herbert hatte die Aufgabe, sie zu töten. Onkel Herbert war ein guter Schütze, treffsicher wie niemand sonst in Wilimy. Im Sommer war er ein gefragter Mann. Er wanderte mit seiner Flinte von Haus zu Haus und schoss auf die Stare. Barbara bezahlte ihn sogar dafür. Für einen gelungenen Schuss bekam er achttausend Zloty. Ein Bier. Drei Biere am Tag. Das war die Regel. Eine einfache Rechnung.
Jurek kniete nieder, er hatte sich nicht geirrt. Sie waren hier, die Vögel. Er griff nach dem toten Vogelkörper, der sich sehr weich in seinen Händen anfühlte. Weich und kalt.
– So ein kleines Ding, bin ich wieder zu Hause? sagte er.
Er lachte auf. Kornelia, die hinter seinem Rücken kauerte, berührte Jureks Nacken, sie zitterte, sie massierte seinen Nacken.
– Eine kühle Nacht heute, sagte sie.
Eine heiße Nacht, wollte Jurek sagen, aber er verkniff sich diesen Satz. Er legte den Vogel an seine Wange. Ich bringe euch wieder zum Fliegen, ihr Mistviecher, dachte er, ich bringe es euch wieder bei! Jurek warf den Vogel in den Himmel, er traf den Baum seines Vaters, die Buche, der Vogel blieb in den Ästen hängen, über dem Grab des Vaters. 
– Was machst du da? Steh auf, Moogi und Harri warten auf uns im Auto. Sie sind hundemüde…
– Siehst du sie nicht?
– Wen?
– Die Stare. Sie sind hier.
Kornelia stieß sich von Jurek ab, sprang auf und ging zum Auto.
– Hol mir ein Messer! schrie Jurek hinter ihr her.
Sie kam nach kurzer Zeit zurück. Mit Harri und Moogi.
– Seht ihr das nicht? Sie fliegen nicht mehr! sagte Jurek.
Moogi stellte sich vor seinen Freund. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf die Erde, auf die Vögel.
– Was willst du mit ihnen machen, Jurek? fragte er.
Jurek schaute ihn an. Er suchte nach seinen Augen, aber das Licht der Taschenlampe blendete ihn. 
– Was soll diese Frage? staunte Harri. Wir sollten endlich schlafen gehen.
– Ich muss ihnen die Köpfe abschneiden, sagte Jurek.
Harri zog das Springmesser unter seinem Sakko hervor, das nagelneue Messer.
– Was ist das? staunte Kornelia.
– Gib es her, sagte Jurek zu Harri. Ich tu es jetzt oder nie.
Er streckte die Hand nach dem Messer aus, Harri drückte auf die Sicherung, die Klinge sprang geräuschlos heraus, er warf das Messer in die Erde.
– Nimm es dir, sagte er.
– Nein! schrie Kornelia. Ihr seid ja alle übergeschnappt! Ich bin doch nicht tausend Kilometer gefahren, um Tiere zu quälen…
– Kornelia, diese Vögel sind doch schon tot, erklärte Moogi.
Er bückte sich nach dem Messer. Er zog es aus der Erde heraus. Er machte die Klinge an seiner Jeans sauber und gab das Messer Harri zurück.
– Jurek, wir sollten jetzt wirklich schlafen gehen, sagte er.
Jurek lachte wieder. Er spuckte in die Hände und rieb den Speichel ab.
– Ich werde die Leiche meines Vaters ausgraben, ich werde seinen verdammten Kopf abschneiden, sagte er.
– Was? Was? sagte Kornelia.
– Ja, du hast es richtig verstanden.
Moogi fasste sich an die Stirn, er drehte sich einmal um die eigene Achse, er stieß einen tiefen Seufzer aus.
– O Gott! Wann geht diese Nacht zu Ende, sagte er zu Harri.
Harri machte ein ernstes Gesicht. Aus seinem Mund kam kein einziges Wort. Er konnte manchmal schweigen, das schätzte Jurek an ihm. Er war bestimmt ein wahrer Hitzkopf, doch manchmal verstand er mehr, als man von ihm vermuten könnte.
– Kornelia, sagte Jurek, gib mir einen Kuss, komm, hm?
– Nein! Das geht über meine Vorstellungskraft! Verstehst du das nicht? Ich kann mir nicht ansehen, wie du einen Toten… Ach, was rede ich da! Du bist doch völlig krank!
– Nein, nein, nein! schrie Jurek.
Im Haus begannen die Hunde zu bellen. In der Küche ging das Licht an. Barbara kam ans Fenster. Sie schlug die Flügel auf, und es wurde plötzlich still. Die Hunde sprangen ins Freie. Sie wedelten mit ihren Schwän­zen. Sie liefen um Jurek und Harri und Moogi herum und schnupperten an ihnen. Kornelia ließen sie in Ruhe.
– Jurek? Bist du es? fragte Barbara.
– Ist das deine Mutter? fragte Moogi.
Er bekam keine Antwort von seinem Freund. Jurek beug­te sich zu den Hunden hinunter, streichelte sie, strich ihnen über ihre feuchten Nasen und klopfte ihnen auf die Rücken.
– Ihr lebt ja noch, sagte er zu den Hunden.
– Sie sind beide zwölf Jahre alt, sagte Barbara.
– Mutter, ich weiß, wie alt sie sind, sagte Jurek.
Jetzt erst blickte er zu seiner Mutter herüber. Sie hatte ihr altes weißes Nachthemd mit den gelben Sternchen an, sie stand da, genauso, wie Jurek sie sich vorgestellt hatte, ohne BH, ihr Busen hing herunter, berührte fast die Fensterbank. Ihr Gesicht war nur etwas fleischiger geworden, und sie hatte Falten, Falten im Gesicht.
– Willst du mir nicht deine Freunde vorstellen? Wer ist diese Frau?

Sie schliefen alle, alle bis auf Jurek, sein Herz schlug schneller und kräftiger als sonst, als hätte er einige Nächte hintereinander gezecht. Er atmete schwer. Jurek betastete seinen Brustkorb, er massierte ihn, um auf diese Weise das Herz zu beruhigen – es half nur für ein paar Augenblicke, danach wurde es noch schlimmer.
Jureks angeschossene Hand schmerzte nicht mehr so stark wie an den ersten Tagen nach der Operation. Er konnte wieder Gegenstände greifen und die Finger fast wie gewohnt benutzen. Aber der plötzliche Schwächeanfall machte Jurek unruhig, der heiße, beschleunigte Herzschlag, er erhöhte seine Körpertemperatur, das Wallen des Blutes in den Adern, im Kopf. Die Müdigkeit nach der Reise kam noch dazu, und auch die Aufregung, wieder zu Hause zu sein, falls es überhaupt ein Zuhause war, dessen war er sich nämlich nicht mehr so sicher, die große Aufregung war auf jeden Fall da. Nein, eigentlich war er sich überhaupt nicht sicher, wo sein Zuhause war, und er wunderte sich über seine Absicht, den Vater zu enthaupten, den toten Vater. Woher kommt der Wunsch? fragte er sich. Ich bin kein Mörder, ganz bestimmt nicht, er ist doch schon tot, vielleicht noch nicht ganz tot, deswegen bin ich doch hierher gekommen, um zu prüfen, ob er wirklich tot ist. Kornelia versteht mich nicht, sie wird es nicht verstehen, für sie ist das nur eine Erholungsreise, reine Neugier, wie es aussehen mag, dort, wo ihr Mann, der gute Jurek, die Hälfte seines Lebens verbracht hat.
Er zog sich an und ging aus dem Haus. Kornelia schlief noch, atmete ruhig und träumte von ihrem Leben in anderen Welten. Kornelia, wo bist du jetzt? überlegte Jurek. Kenne ich diesen Ort? Bin ich auch schon mal dort gewesen? Nein, wir träumen beide von demselben Ort, aber wir sind noch nie zusammen an diesem Ort gewesen, und du kannst mich jetzt nicht hören, aber ich höre dich, ich höre deinen langsamen Atem, wiederholte er laut. Er wusste nicht, wie spät es war, er wollte es nicht wissen. Es war immer noch dunkel genug, um nicht fürchten zu müssen, dass bald wieder ein neuer Tag anbrechen würde. Seltsam, ja seltsam, so viele Jahre hatte er hier gelebt, an diesem Ort, den er in seinen Träumen oft gesehen hatte, und erst heute, in dieser Nacht, war es ihm in den Sinn gekommen, im Mondschein baden zu gehen. Unter Sternen und bei Dunkelheit, in völliger Stille. Er ging über Barbaras Weiden zum See hinunter, der in der Ferne wie Platin leuchtete. Der Dadajsee. Das ist also der Dadajsee, sagte er laut, Dadaj. Er verstand diesen Namen nicht mehr, der Klang dieses Wortes war für ihn fremd geworden, ein fremdes Wort, der Dadajsee, dachte er. Und auch die Farbe des Sees, diese riesige Fläche, die selten zum Stillstand kam, war ein fremdes, unentschlüsselbares Wort geworden wie ein Traum.
Jurek zog seine Schuhe aus. Er wollte das nasse Gras unter den Fußsohlen spüren, die Nässe und die Schärfe der dünnen Grashalme. Er dachte, die Schuhe zertreten alles, die kleinen Schnecken, die man nicht sieht, die Spinnen, die Grillen, die man nicht hört.
Er warf seine Kleider auf den Strand, die Unterhose behielt er an. Das Wasser war kalt, es hatte genau die richtige Temperatur gegen seine innere Hitze, er ging bis zu den Hüften ins Wasser und begann zu zittern, mit jedem Schritt heftiger. Er sah, dass es hier unten im Tal etwas heller war als oben am Waldrand, wo Barbaras Haus lag. Tatsächlich, es war hier ein Licht vorhanden, ein unbeschreiblich dunkles Licht, das aus der Tiefe des Sees heraufdrang, nach oben in den Nachthimmel. Aber es war ein verdunkeltes Licht, das dennoch leuchtete, dreckig leuchtete zwischen Himmel und See. Er erinnerte sich an eine CD von Keith Jarrett, an die Dark Intervals, und hatte diese Musik wieder im Kopf, die Tiefe dieser Musik, die für Jurek nur mit der Tiefe eines Sees vergleichbar war, in dem ganz unten auf dem Boden die Pflanzen und die Fische für den Menschen unerreichbar waren, kein Mensch würde dort unten in diesem schwarzen Dschungel leben wollen. Wenn es Gott tatsächlich gibt, überlegte Jurek, so muss er sich dort unten versteckt haben, vor uns Menschen – vor der Welt, vor unserer Grausamkeit.
Er ging noch weiter und tiefer, bis zum Hals, die verbundene Hand über dem Kopf haltend, und fühlte sich plötzlich so leicht und frei von allen Dingen, die ihn umgaben, er freute sich sogar, dass er wieder in diesem See baden durfte. Er schwamm einige Meter auf dem Rücken, sah sich die Sterne an und suchte wieder nach einem ganz bestimmten Stern, an dem der Blick langen haften bliebe, aber es waren zu viele, zu viele leuchtende Punkte, um den richtigen einzigen finden zu können. Er schwamm wieder zurück ans Ufer.
Jurek drehte sich eine Zigarette. Er setzte sich mit der Zigarette ins Wasser. Nach drei Zügen ging sie in seinen feuchten Fingern aus. Er behielt sie zwischen den Fingern, steckte sie sogar noch einmal in den Mund. Er schmeckte den feuchten Tabak und kaute auf ihm herum.
Auf dem Rückweg kaute er immer noch. Er spuckte mit der Zungenspitze die dünnen, braunen Streifen aus. Er nahm seine Armbanduhr ab. Er schaute nach der Zeit. Bis zum Sonnenaufgang blieben noch ungefähr zwei Stunden. Er warf die Uhr, die Seiko, bis zu 200 Metern wasserdicht, weit weg auf die Weide. Ich will nicht mehr, dachte er sich, es ist immer zu spät, für alles zu spät.

© STINT Verlag, Bremen 1997.
© Droemer Knaur Verlag, München 2003/2004.