Artur Becker 
Bartel und Gustabalda
Gedichte (Auszüge)
© parasitenpresse, Köln, August 2019

Ach, Jętka!
Für Karina Fenner

Was wirst Du denn anfangen, Du Eintagsfliege Jętka,
Mit dem Erbe Deiner verstorbenen Mutter: am frühen Morgen?
Ihr Teegeschirr ist so zerbrechlich,
Ihr Plasmafernseher ist Dir doch zu groß
Für Deine irdische Uniform, Jętka:
Außerdem wird er nicht mehr hergestellt,
Im neuen Jahrtausend planen die Sternenverwalter
Nicht mehr mit den Kannibalen, den künstlichen Intelligenzen ‒
In den Heiligen Schriften der ertrunkenen Völker heißt es doch,
Das Experiment »Zweiflügler« werde bald beendet: im Namen der Erlösung;
Laika und Neil Armstrong ‒ diese romantischen Helden mit Flügeln
Aus Kerzenwachs und Gänsefedern solle es im Weltall nie wieder geben?
Da staunst Du, was!? Du kannst sie ja noch einmal anschauen
Auf Deinem neuen Plasmabildschirm,
Bevor Du selbst verschwindest ‒ für gewöhnlich am frühen Abend ‒
Aus Deinem Leben im Nachtasyl: Du hast kluge Bücher geschrieben
Und gegen das diktatorische Regime Deiner Heimat protestiert,
Du hast Nachkommen gezeugt und nichts gestohlen,
Andere hatten es besser ‒ in ihren vergoldeten Kinderwagen ‒, 
Du hast sie aber nicht verhöhnt ‒ so teuer war Dir die Nächstenliebe,
Obwohl Deine hungrigen Eingeweide geschrien haben: Zahn um Zahn!

Ach, Jętka! Du Eintagsfliege! Aber den saftigen Geschmack
Eines verfaulten Apfels hast Du ja einmal gekostet,
Und diesen wirst Du wohl nie vergessen ‒ oder?

Hier kommt die Armee

Hier kommt die Armee vergangener Tode und Küsse aus dem Wald
Meiner alten Kindheit in der Volksrepublik der westbaltischen Prußen
Und ihrer allwissenden Moränenseen.

Hier kommt die Armee der fünfzehnjährigen Liebhaber,
Mädchen in gestreiften Kleidern, Jungfern, die nicht mehr sterben wollen ‒
Nach dem ersten Bienenstich in den Brombeersträuchern.

Hier kommt die Armee der Erinnerungen und Leben
Ohne Ausrüstung der Gegenwart:
Die Jungs in kurzen Hosen und mit Gänsefedern im Haar
Spielen Tamburin und spucken auf die Erde
Und schreien wie die hungrigen Krähen im Schnee,
Weil sie sich Mut machen wollen.

Und hier kommt die Armee der neuen-alten Kriege,
Und aus dem Boden sprießen Blutstängel, sie werden keine Kornblumen gebären.
Aber tippen Sie nicht immer wieder auf die ehemaligen Pfadfinder und Schlagetots,
Die jeder auf dem Schulhof gefürchtet hat ‒ der stille unscheinbare Bursche
Am Wegesrand: Der kann noch Diktator werden.

Hier kommt die Armee,
Und sie schwängert den Planeten Terra für die nächsten Generationen,
Sie steht schon vor der Hauptstadt,
Ihre Kleider sind zerfetzt und dreckig,
Ihre Familien sterben zu Millionen an der Front ‒
Sie fliegen nicht mehr in den Himmel, toten Dohlen gleich,
Und niemand will sie mehr retten.

Hier kommt die Armee,
Wie sie schon einmal am Nil und Euphrat gekämpft,
In den Tempeln und Dörfern der Fischer gewütet hat:
Sie schwimmt schon wieder über den Atlantik,
Und wenn es keine Ozeane mehr gibt,
Wird sie uns trotzdem retten wollen.

Hier kommt die Armee der elektrischen Engel auf vergoldeten Surfbrettern
Und will uns täuschen: mit ihren teuren Kleidern,
Bankkrediten und TV-Bildschirmen ‒ sie macht uns Versprechungen,
Will sich nicht still entfernen, baut für uns Ferienlager,
Und du wirst der Erste sein, der die freundliche Begrüßung
Am Eingangstor nicht überleben wird.

Hier kommt die Armee der namenlosen Grashalme:
Du hast geliebt? Bist gestorben? Macht nichts. Es ist alles vorbereitet.
Es gibt Dächer über den Dächern ‒ die Astronomen können sie nicht sehen
Und berechnen. Es gibt dort Milchmänner, die sich nie schlafen legen,
Damit sich das Karussell der Reinkarnationen weiter drehen kann.

24. - 25. Mai 2014


Centro Tedesco di Studi Veneziani

Im Centro Tedesco di Studi Veneziani
Warten die Terrassenmöwen
Auf den Honig
Unserer weißen Junitage,
Die uns der Sommer großzügig spendet,
Und Galileo Galilei,
Dessen blinde Augen die Lagune aus Stein und H2O bewachen,
Ertrinkt in der Sonne,
Und sie − diese Krankenschwester des Himmels −
Legt sich hier in den jenseitigen Kanälen
Nie schlafen.

Engländer-Touristen
Werden von den hungrigen Kellnern geköpft,
Die Frauen-Röcke sind kurz und katholisch,
Der Wein hier ist blond,
Und im roten Wasser wachsen Brücken, Motorboote, Cafés, Kirchen
Und Deine Arme – Deine Beine: Du wilde Luna Veneziana,
Du umgarnst mich,
Schwimmst mit mir fort,
Nennst mich bereits einen Toten,
Der zu Sternenfutter verarbeitet wird:
Für Deinen Meeresfriedhof San Michele,
Für diese Bohrinsel zwischen Himmel und Hölle.

Venedig, Juni 2010


Das sterbliche Juwel Erde

Fremde Gräber: Betten schauten mich an,
An allen Straßenecken krepierten Sonnen,
Könige trauerten um ihre Paläste und Götter,
Und im Gefechtsfeuer ihrer Verluste lachte kein einziger Hofnarr mehr.
Weit war jedwede Ferne, weit waren die Weinstöcke schöner Feste
Und schlicht die Freude über das Vergangene.
Und in meinem Kopf brannte bloß des wichtigsten Feindes Lied,
Des Todes Brosche: Stecknadel – die man für gewöhnlich findet
Auf dem Dachboden oder bei einem Antiquitätenhändler,
Aber ohne Namen und Adresse: das sterbliche Juwel Erde.

 



 

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